Kritik zu Anxiety
In seinem dritten Spielfilm (nach »Retrieval«, 2006, und »Loving«, 2012) erzählt der polnische Regisseur Slawomir Fabicki von zwei Schwestern auf dem Weg von Warschau in eine Schweizer Sterbeklinik
Roadmovies interpretieren den metaphorischen Gehalt des Reisens auf unterschiedliche Weise: als Weg zur Identitätsfindung etwa, als Flucht vor den Anforderungen der Gesellschaft, vor sich selbst oder als Bild für das Leben. Was auch immer das Ziel sein mag, meist geht es um die Geschichte davor.
Auch Slawomir Fabickis »Anxiety« ist ein Stop-and-Go-Film, der zwischen Autobahnen, Hotelzimmern und Tankstellen, den klassischen Unorten des Roadmovies, angesiedelt ist. Zugleich aber variiert der Regisseur die traditionellen Muster, wenn er diese Kulissen nur schemenhaft andeutet. In »Anxiety« ist nicht der Weg das Ziel. Es ist keine Reise ins Ungewisse, die die Schwestern Malgorzata (Magdalena Cielecka), genannt Gosia, und Lucja (Marta Nieradkiewicz) in ihrem Alfa Romeo antreten.
Warum die Schwestern unterwegs sind, erschließt sich erst sukzessive. Gosia ist schwer krank und will in einer Schweizer Klinik ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende setzen. Die Fahrt erträgt sie nur unter Morphium, hat aber zwischendurch Kraft genug, um ihre Anwaltskanzlei zu organisieren. Gosia ist eine kontrollierte Frau, ihr Kurzhaarschnitt ist nicht nur Nebenwirkung der Krebsbehandlung, sondern steht auch für ihre Strenge den Mitmenschen gegenüber.
Allen voran gegenüber ihrer jüngeren Schwester Lucja, deren Leidenschaft eigentlich die Kosmetik ist, die aber von Gosia gedrängt wurde, in ihrer Kanzlei mitzuarbeiten. Lucjas Familie wird hin und wieder über das Smartphone eingeblendet, ist aber in dieser Situation keine Hilfe. Während Gosia illusionslos auf ihr Ende zugeht, versucht Lucja deren Lebensmut zu wecken. Heimlich hat sie eine Reitstunde für ihre Schwester gebucht und hält Kontakt mit einer deutschen Klinik, von deren Therapiekonzepten sie sich zumindest eine Verzögerung des Krankheitsverlaufs verspricht.
»Ich bin keiner dieser Regisseure, die das Geschichtenerzählen feiern. Es ist das ›Charaktererzählen‹, das mich interessiert«, so Slawomir Fabicki in einem Interview. Die Handlungsfäden, die hin und wieder aufscheinen, werden in der nächsten Sequenz nicht wiederaufgenommen, ob Lucjas kleine Fluchten vor dem Unausweichlichen, Gosias schneller Sex mit einem Familienvater auf einem nächtlichen Parkplatz oder slapstickhafte Einlagen. Die Episoden sind nur retardierende Momente, eine Entwicklung findet nicht statt. Fabickis Film verzichtet dabei völlig auf die genreübliche Überwältigungsdramaturgie, wofür schon der wohltuende Verzicht auf Filmmusik und die lakonischen Dialoge sorgen. Das Drama spielt sich vorwiegend auf den Gesichtern der glänzenden Hauptdarstellerinnen ab, die oft in Nahaufnahmen zu sehen sind.
»Anxiety« ist kein Lehrstück über die Kontroversen um Sterbehilfe. Die entscheidenden Fragen sind alle vorab beantwortet. Vielmehr konfrontiert der Film sein Publikum mit der ganz unspektakulären Alltäglichkeit des Todes. »Sollen wir der Kleinen den Kimono für das Karatetraining kaufen?«, fragt Lucjas Ehemann am Ende am Telefon. Das Leben geht weiter.
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