Noah Baumbach: Familienroman des Stadtneurotikers
Noah Baumbach am Set von »Marriage Story« (2019). © Netflix/Filmwelt Filmverleih
Mumblecore ist Geschichte. Und war sowieso nie das, was die Filme von Noah Baumbach im Inneren zusammenhält. Manfred Riepe meint: Es hat etwas mit Bildungshipstern und seltsamen Eltern zu tun
Auf den ersten Blick wirkt »Weisses Rauschen« nicht wie ein typischer Noah-Baumbach-Film. Es ist sein erster, der nach einer fremden Vorlage entstand – dem gleichnamigen Roman von Don DeLillo aus dem Jahr 1985 –, und seine erste Großproduktion (die zudem mit dem Katastrophenfilm liebäugelt). Dennoch ist die Geschichte eines amerikanischen Hitler-Forschers, der seine mangelnden Deutschkenntnisse verbirgt, typisch für den intellektuellen New Yorker Autoren-Regisseur. Die Filme, die Noah Baumbach seit 25 Jahren realisiert, fügen sich zu einer autobiografischen Metaerzählung. Ein Grundkonflikt wird dabei aus verschiedenen Perspektiven durchdekliniert. Von seinem Debüt »Kicking and Screaming« aus dem Jahr 1995 bis hin zu »Marriage Story« (2019) schlägt Baumbach jeweils ein weiteres Kapitel aus einem großen Familienroman des Stadtneurotikers auf.
Eigentlich assoziiert man ihn mit dem Mumblecore, einem Subgenre des Independentfilms, bei dem mangelndes Budget durch dialoglastige Seelenenthüllungen kompensiert wird. Mit diesem Etikett wird man dem äußerst vielseitigen 53-Jährigen längst nicht mehr gerecht. Er schrieb Drehbücher gemeinsam mit Wes Anderson, in dessen experimenteller Tiefsee-Komödie »The Life Aquatic with Steve Zissou« er auch als Darsteller vor die Kamera trat. Gemeinsam mit Jake Paltrow realisierte er außerdem einen Dokumentarfilm über Brian De Palma, einen Bekannten seiner Eltern.
Vor allem aber kartografiert Noah Baumbach die Symptome mental übertrainierter Kids, die in die Rolle ihrer Eltern schlüpfen, die – und das ist die Pointe – selbst nicht erwachsen geworden sind. In »Kicking and Screaming«, dem Debüt eines früh vollendeten 26-Jährigen, trinken College-Absolventen Whiskey wie gestandene Männer. Übergangslos folgt die Midlife Crisis. Baumbachs Protagonisten zitieren Kafka und Aristoteles. Jemand verwechselt »Diplom« mit »Diaphragma«. Die Dialoge klingen nach intellektuellem Pingpong.
Dieses Spiel mit Tics, Neurosen und intellektuellen Verstiegenheiten hat autobiografische Wurzeln. Baumbachs jüdischer Vater Jonathan lehrte an der Stanford University. Er ist Autor einer »schwer zu definierenden literarischen Gattung« namens Experimental Fiction – in »Kicking and Screaming« spielt er sich übrigens selbst. Seine Mutter Georgia Brown, eine Protestantin, schrieb Filmkritiken für die »Village Voice«. Die Scheidung seiner Eltern, die sich während seiner Adoleszenz trennten, diente als nachhaltige Inspiration.
Nach »Mr. Jealousy und Highball«, einem misslungenen Experiment, bei dem er seinen Namen zurückzog, und nach einer achtjährigen Pause realisierte Baumbach 2005 das Scheidungsdrama »The Squid and the Whale«. Das Drehbuch zu diesem Film, das für den Oscar nominiert war, hat Baumbach seinen Eltern lieber nicht gezeigt. Durch das Makeup sieht Jeff Daniels in der Rolle des dünkelhaften New Yorker Hochschullehrers wie das Ebenbild von Baumbachs Vater Jonathan aus. Er verkörpert einen eitlen Literaten, der in seinem Stolz tief gekränkt ist. Seine Manuskripte werden alle abgelehnt – obwohl er Kafka als seinen »Vorläufer« bezeichnet. Seine Noch-Frau hat dagegen literarischen Erfolg. Damit nicht genug, beginnt dieser Vater eine sexuelle Beziehung ausgerechnet mit jener Studentin, in die sein Sohn verliebt ist.
Diese Konstellation, in der Eltern die Grenze zwischen den Generationen ignorieren, lotet auch das komische Drama »Margot at the Wedding« aus. Der Film von 2007 verblüfft bereits durch seine Besetzung. Neben Jack Black, John Turturro und Baumbachs früherer Ehefrau Jennifer Jason Leigh – von der auch die Idee zum Drehbuch stammt – verkörpert die junge Nicole Kidman eine angesagte Autorin nach dem Vorbild von Baumbachs Mutter. Wie die meisten Elternfiguren im Baumbach-Universum pflegt auch sie eine unangenehme Form von Übergriffigkeit. Mit ihrem pubertierenden Sohn, den sie Claude (nach Claude Chabrol) nennt, redet sie über intime amouröse Probleme wie mit einem Gleichaltrigen. Außerdem zerstört sie zweimal hintereinander die Ehe ihrer Schwester: Und zwar, indem sie Geheimnisse ihres Intimlebens in einer viel beachteten Kurzgeschichte ausplaudert. Dieser »literarische Kannibalismus« ist ein durchgehendes Motiv. Baumbachs Charaktere sind meist Autoren, die mit ihrem creative writing hadern und dabei das Privatleben von Freunden und Verwandten ausschlachten. Das ist, wenn man so will, der Baumbach-Touch.
Die Folgen einer solchen Erziehung durch narzisstische, übergriffige Eltern dekliniert Baumbach in seinen darauf folgenden Filmen durch. Nachdem er am Drehbuch zu Wes Andersons »Fantastic Mr. Fox« partizipiert hatte, einem Stop-Motion-Animationsfilm nach Roald Dahl, realisierte er das 2010 auf der Berlinale gezeigte Comedy-Drama »Greenberg«. Auch dieser Film ist bereits von den Besetzungsideen her interessant. Im Gegensatz zu seinem lang gepflegten, kassenwirksamen komischen Image überzeugt Ben Stiller als zwangsgestörter Ex-Musiker, der nach einem Suizidversuch Zeit in einer Nervenklinik verbrachte. Nun hütet er das Anwesen seines verreisten Bruders, dessen finanziell abhängige Haushälterin seine wechselhaften Launen ertragen muss: »Verletzte Menschen verletzen Menschen«, sagt sie ihm einmal verständnisvoll.
Dieser Film ist der Beginn einer kreativen Kooperation mit Baumbachs gegenwärtiger Ehefrau und Muse Greta Gerwig. Eine minutenlange Großaufnahme auf ihr Gesicht während einer Autofahrt führt sie ein, als wäre sie eine neue Marilyn Monroe. Dabei verkörpert sie mit ihrer bodenständigen und leicht trampeligen Art ein erfrischendes Gegenbild zu den mythisch überladenen leading ladies des Hollywood-Kinos.
In »Frances Ha« avancierte Greta Gerwig als etwas andere Balletttänzerin zur Independent-Ikone. Der Film über eine quirlige New Yorkerin, die sich um einen festen Job bei einer privaten Dance Company bemüht, markiert einen Wendepunkt in Baumbachs Schaffen. Denn als Stilist nahm man ihn bis dahin kaum wahr. Die formale Ebene trat in seinen dialoglastigen Psychogrammen eigentlich nie in den Vordergrund. »Frances Ha« ist der erste Film, der neben seiner liebenswürdigen intellektuellen Verstiegenheit auch ausgesprochenen ästhetischen Genuss bereitet. Das liegt nicht nur an der wundervollen Schwarz-Weiß-Fotografie, die New York gefühlt europäisch erscheinen lässt. Wenn Frances im Zuge eines sinnfreien Wochenend-Trips nach Paris jettet, dann wird die leichtfüßige Verbeugung vor der Nouvelle Vague auch inhaltlich gespiegelt. Nicht zufällig avancierte »Frances Ha« zum Indie-Hit.
Mit einer unwiderstehlichen Verve verkörpert Greta Gerwig in »Mistress America« das weibliche Gegenstück zu dem dünkelhaften Musiker aus »Greenberg«. In dieser bittersüßen Screwball-Komödie schlüpft sie in die Rolle eines lebenslustigen New Yorker It-Girls. In Wahrheit ist diese Brooke aber eine Getriebene. Sie träumt davon, ein neuartiges Restaurant zu eröffnen. Eine Gastronomie, in der Kinder ihre Hausaufgaben machen, in der man sich die Haare schneiden lassen kann – und in der sich jeder wie zu Hause fühlt.
Die Weltfremdheit dieser Idee wird konterkariert durch ein Stilmittel, das bereits »Kicking and Screaming« prägte. Baumbach hat ein Gespür dafür, das Seelenleben seiner Protagonisten durch den Einsatz von pointiert ausgewählter Popmusik punktgenau auszuleuchten. Der elegische Song »Souvenir« von Orchestral Manoeuvres in the Dark aus dem Jahr 1981 wird so zum Ausdruck jenes emotionalen Höhenfluges, auf den im Zuge einer bipolaren Störung der Absturz folgt: Brooke verliert ihre Wohnung und ist dank der voreiligen Bestellung teurer Küchenapparate hoch verschuldet.
Trotz dieser wirtschaftlichen und emotionalen Dysfunktionalität vieler seiner Figuren kommt es in der Welt Baumbachs nie zur totalen Katastrophe. In »Mistress America« rettet Brooke ein reicher Freund vor dem Ruin. Selbst in der tragikomischen Familiengeschichte »The Meyerowitz Stories« (2017) bleibt der große Knall aus. Dabei hätten die Mitglieder dieser New Yorker Patchworkfamilie allen Grund, diesen Harold Meyerowitz mit einem nassen Handtuch zu erschlagen.
In der Rolle des Titelhelden, als verkrachter Künstler variiert Dustin Hoffman hier jene Figur, die bereits Jeff Daniels in »The Squid and the Whale« verkörperte. Das ehrenwerte Museum of Modern Art widmet einem alten Bekannten eine Retrospektive. Dadurch wird Harold schmerzlich bewusst, wie unbedeutend er selbst eigentlich ist. Mit seinem Sohn Matthew (Ben Stiller), der dem Kunstbetrieb wohlweislich den Rücken kehrte, hat er gebrochen. Die ganze Verachtung des Patriarchen, in dessen Augen allein die künstlerische Entfaltung zählt, trifft den ältesten Sohn, der als leidlich talentierter Musiker die Erwartungen des Vaters verzweifelt zu erfüllen versucht. In der Rolle lotet der Krawall-Komiker Adam Sandler eine ganz andere Seite von sich aus.
Ben Stiller hat bei Baumbach ein zweites Standbein gefunden. In »While We're Young« (Gefühlt Mitte Zwanzig), der dritten Zusammenarbeit mit dem Independent-Regisseur, befindet er sich — wie die meisten Baumbach-Charaktere – in einer kreativen Dauerkrise. Sein achtstündiger Dokumentarfilm, eine kopflastige Welterklärung, an der er seit über zehn Jahren arbeitet, ist gefühlte siebeneinhalb Stunden zu lang. Diese Einschätzung ist umso bitterer, als sie von seinem Schwiegervater stammt. Die ödipale Konkurrenz mit dem »Paten des Dokumentarfilms« lähmt.
Als willkommene Frischzellenkur empfindet Josh daher den Kontakt zu dem Anfang zwanzigjährigen Überflieger Jamie. Vom Dualplattenspieler bis zur Smartphone-Abstinenz hat dieser Hipster alle aktuellen Trends auf dem Schirm. Allerdings ist er auch berechnend und hinterlistig. Josh interessiert ihn nur aus einem Grund: Der Kontakt zu dessen berühmtem Schwiegervater wird für den jungen Dokumentarfilmer zum Karrieresprungbrett.
Joshs tragikomischer Versuch, sich der Jugend anzuverwandeln, scheitert krachend. Und so erweist »While We're Young« sich als Gegenstück zu Baumbachs frühen Filmen. In »Kicking and Screaming« überspringen Kids ihre Jugend, um sich schrullige Neurosen des Alters anzueignen: Ist das nicht eine Parodie auf berühmte Teenagerkomödien wie »The Breakfast Club«, in denen Jugend zum Fetisch überhöht wird?
Im Gegenzug dazu kommen Josh und seine Frau (Naomi Watts) in »While We're Young« zur Einsicht, dass die Jugend unerreichbar ist. Also fügen beide sich in ihre altersgerechte Rolle: Am Ende werden sie ein Kind adoptieren. Gewiss, dieser Schluss ist schon etwas kitschig. Er ist aber zugleich eine Steilvorlage für »Marriage Story«, eine Produktion für den Streaminganbieter Netflix, bei dem Baumbach einen langjährigen Exklusivvertrag unterschrieb.
Mit diesem Film schließt sich ein großer Kreis in seinem bebilderten Familienroman des Stadtneurotikers. Aus dem 12-jährigen Frank, der in dem Scheidungsdrama »The Squid and the Whale« sein Sperma an die Bücher der Schulbibliothek schmierte, ist 14 Jahre später der angesagte Off-Broadway-Regisseur Charlie (Adam Driver) geworden. Die Ehe mit seiner Frau und Muse (Scarlett Johansson) ist, wie sollte es in diesem Milieu anders sein, zerbrochen. Einer gütlichen Trennung steht aber nichts im Wege. Denn beide schätzen einander.
Doch bei Dreharbeiten zu einer TV-Serie muss Nicole nach Los Angeles. In der Stadt der Engel trifft sie eine buchstäbliche Advokatin des Teufels. Als berüchtigte Scheidungsanwältin spielt Laura Dern die heimliche Hauptfigur – für die sie nicht zufällig einen Oscar erhielt. Mit einer Mischung aus manipulativer Psychologie und einem verdrehten Feminismus verführt sie ihre Klientin zu einem zerstörerischen Rosenkrieg, den man so noch nie gesehen hat: Aus einem Paar, das sich nach wie vor mag, werden zwei verfeindete Wesen. Sie zerfleischen sich gegenseitig – einzig und allein deswegen, weil die Anwälte durch diesen forcierten Zwist viel Geld verdienen.
Mit einem Röntgenblick für die Fallstricke des politisch korrekten Zeitgeistes hat Baumbach diese Szenen einer Ehe zwei Punkt null realisiert. Doch der Blick in die Tiefen der Seele ist bei Baumbach meist rückgekoppelt mit einer jüdischen Form von Intellektualität. Nicht zufällig gilt »The Meyerowitz Stories« als bester jüdischer Film seit »A Serious Man« von den Coens. Der um die Ecke gedachte Humor Baumbachs erinnert gewiss auch an Woody Allen, dessen Einflüsse er gar nicht bestreitet. »Wäre ich in Polen oder Berlin geboren, dann wäre ich heute ein Lampenschirm«, heißt es in »Stardust Memories«. Solche grimmigen Anspielungen auf den Holocaust lassen sich von Baumbachs neuestem Film zurückverfolgen bis zu seinem Debüt. In »Weisses Rauschen« spielt Adam Driver den Begründer eines Instituts für Hitler-Studien, der über Jahre hinweg verschwieg, dass er kein Wort Deutsch spricht. Diese beredte Sprachlosigkeit klingt bereits in »Kicking and Screaming« an, wo die Mutter des Protagonisten sich während einer Europareise immer nur auf dem Anrufbeantworter meldet. Einmal erklärt sie, sie habe Auschwitz besucht, um im selben Atemzug hinzuzufügen: »So lange du nicht hier drüben warst, wirst du mir nicht glauben, wie schlecht amerikanischer Kaffee ist.« Man könnte das als snobistisch und degoutant abtun. Aber wenn man genau hinhört, merkt man, wie hier das Unsagbare anklingt.
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