Nahaufnahme von Sophie Rois
Sophie Rois in »A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe« (2022). © Komplizen Film
Eine Sechzigjährige und ein vierzig Jahre jüngerer Mann? Das kommt im Kino nicht so oft vor. Aber wenn Sophie Rois es in »A E I O U« von Nicolette Krebitz spielt, wirkt es vollkommen selbstverständlich. Weil Konventionen und Klischees an dieser Schauspielerin einfach abperlen
Die Erinnerung trügt. Dazu trägt auch das damalige Filmplakat bei. Da sitzt Sophie Rois, die Beine lässig übereinandergeschlagen, auf der Motorhaube eines alten Hanomag und überragt Joachim Król und Horst Krause beinahe um einen ganzen Kopf. Und so ist sie in Erinnerung geblieben, als der eigentliche Star in Detlev Bucks kauziger Nach-Wende-Komödie »Wir können auch anders«, als die Frau, die den zwei etwas weltfremden Außenseitern Rudi und Moritz Kipp erst den rechten Weg weist, die sie aus dem mörderischen Schlamassel rettet, in das sie sich selbst gebracht haben.
Ganz falsch ist diese Erinnerung nicht. Schließlich bewahrt die von Rois gespielte Wirtin Nadine die beiden Brüder und den russischen Deserteur, der sie auf ihrer Fahrt durch den »Wilden Osten« begleitet, vor der sicheren Verhaftung, vielleicht sogar vor Schlimmerem. Eine absurde Eskalation der Gewalt ist in Bucks Film keineswegs auszuschließen. Aber Nadines beherztes Eingreifen erspart Kipp und Most, wie sie sich nennen, das Schicksal von »Butch Cassidy and the Sundance Kid«.
Dennoch ist Nadine nur eine Nebenfigur in diesem von Kinomythen durchtränkten Western aus der nordöstlichen deutschen Provinz und eben nicht sein Star. Sophie Rois tritt erst spät auf. In einer tatsächlich unvergesslichen Einstellung etabliert Detlev Buck sie mit schulterlangem tiefrotem Haar, einem gemusterten grünen Sommerkleid und leuchtend roten High Heels als Femme fatale. Sie könnte sich direkt aus einem Film noir der 1940er Jahre an die Ostsee verirrt haben. Eine Schwester von Rita Hayworth könnte sie in diesem Moment sein. Eine im deutschen Kino der frühen 1990er Jahre einzigartige Erscheinung.
Schon in dieser Rolle, bei ihrem ersten größeren Auftritt in einem Spielfilm, hat sie etwas ganz und gar Unberechenbares. Die Kipp-Brüder nehmen sie zwar als Geisel. Es wirkt aber nie so, als ob die beiden wirklich Gewalt über sie hätten. Es ist ihre Entscheidung, ihnen als Geisel zu dienen, und es ist auch ihre Entscheidung, die Polizei auf eine falsche Fährte zu führen. Zusammen mit Detlev Buck spielt Sophie Rois mit all den Klischees und Vorstellungen, die das Kino ins kollektive Bewusstsein der Menschen eingepflanzt hat, und unterläuft sie dann auf komödiantische Weise. So kann sich die vermeintliche Femme fatale, die immer nur eine Projektion männlicher Angstlust war, als Retterin erweisen.
In dieses Spiel mit den Erwartungen des Publikums und den Konventionen von Bühne und Film hat sich Sophie Rois seit »Wir können auch anders« immer wieder gestürzt und es dabei perfektioniert, im Theater wie im Kino. Ihr in einer Inszenierung von Frank Castorf oder René Pollesch oder auch in einem Film von Max Linz zuzusehen, bedeutet, erst einmal für alles offen zu sein. In einem im Zuge der diesjährigen Berlinale, bei der sie gleich mit zwei Filmen im Programm vertreten war, veröffentlichten Interview hat die 1961 in Ottensheim, einer kleinen oberösterreichischen Gemeinde bei Linz, geborene Schauspielerin nachdrücklich darauf verwiesen, dass sie noch aus einer anderen Zeit stammt. Einer Zeit, die noch nicht derart auf die komplette Ökonomisierung des Lebens und die fortwährende Selbstoptimierung des Einzelnen fixiert war. Über ihre Arbeit mit Castorf, Christoph Schlingensief, René Pollesch und Detlev Buck, man könnte zu dieser Aufzählung auch Christian Frosch und Stefan Ruzowitzky hinzufügen, sagt sie in jenem Interview: »Wir alle haben uns ausprobiert und uns nicht ans bestehende Erfolgsrezept drangehängt.«
Genau darum geht es Sophie Rois, die 1986 nach Beendigung ihres Schauspielstudiums am Max Reinhardt Seminar in Wien nach Berlin gegangen ist, wo sie zunächst am Renaissance-Theater und am Schillertheater arbeitete, bevor sie 1993 festes Ensemblemitglied an Frank Castorfs Volksbühne wurde. Sie und die Künstler, mit denen sie zusammenarbeitet, probieren sich aus, suchen nach anderen Wegen und neuen Ausdrucksformen. So ist es sicher kein Zufall, dass sie in Stefan Ruzowitzkys »Die Siebtelbauern« (1998), einem der zentralen Filme des neuen deutschsprachigen Heimatfilms, die Rolle der Magd Emmy übernommen hat.
Nach dem Tod des Bauern erben dessen Knechte und Mägde den Hof. Ein Skandal sondergleichen in dem kleinen österreichischen Bauerndorf. Diese testamentarische Regelung, eine gezielte Boshaftigkeit des Verstorbenen, stellt die festgefügte Welt des Dorfes auf den Kopf, und natürlich versucht der von Ulrich Wildgruber gespielte Großbauer Danninger alles, um die Ordnung, also das über Jahrhunderte verfestigte Klassengefälle, zu bewahren. Doch Emmy wehrt sich. Sie tritt dem überlebensgroßen alten Mann noch entschiedener entgegen als die anderen Erben. Anders als die Männer ahnt sie, was zu tun ist, und weiß ganz genau, welche Zeichen sie setzen muss. Beim sonntäglichen Gottesdienst setzt sie sich auf eine der für Bauern und ihre Familien vorgesehenen Bänke – Knechte und Mägde müssen stehen – und singt lauter als alle anderen. Eine Provokation, aber auch ein Zeichen von Mut und Stärke.
Eben jenem Mut und jener Stärke, die Rois so oft in ihren Filmauftritten ausstrahlt. Der Mut, Grenzen zu überschreiten, sich nicht von Konventionen einengen zu lassen und sich eben nicht an »bestehende Erfolgsrezepte dranzuhängen«. Man denke nur an Tom Tykwers »Drei« (2010), in dem sich die von ihr gespielte Hanna auf eine Dreierbeziehung einlässt, oder an »A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe« (2022) von Nicolette Krebitz. In der auf der diesjährigen Berlinale uraufgeführten »romantischen Komödie«, die diese beiden Begriffe wirklich ernst nimmt und sie nicht einfach mit Klischeebildern und Sentimentalität anfüllt, verkörpert sie die 60-jährige Schauspielerin Anna, die sich erst zaghaft, dann aber um so heftiger in den etwa 40 Jahre jüngeren Adrian (Milan Herms) verliebt.
Diese Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem fast noch Jugendlichen klingt nach einem Tabubruch. Aber so wie Rois die Schauspielerin porträtiert, die nach Jahren eines inneren Abgestumpftseins wieder zu fühlen und damit zu leben beginnt, unterläuft sie einmal mehr sämtliche Klischees. Die Gefühle, die nach und nach in ihr erwachen und von Adrians etwas unbeholfener Leidenschaft befeuert werden, wirken ganz und gar selbstverständlich. Diese beiden Menschen passen einfach perfekt zueinander. Sie können einander das geben, was ihnen allein für sich fehlt. Der Altersunterschied wird damit unwichtig, man nimmt ihn gar nicht mehr wahr.
Eine Rolle wie die der Anna zu übernehmen, ist ein Wagnis, weil sie mit der größten Selbstverständlichkeit von den Konventionen unserer Gesellschaft abweicht. Aber es ist gerade diese Form von Wagnis, die Sophie Rois zum eigentlichen Kern der Schauspielkunst erhebt. Wenn sie auftritt, ist es immer ein Spiel ohne Netz und doppelten Boden. Entweder konfrontiert sie das Publikum mit Menschen, die wie Hanna in Drei, Anna in »A E I O U« und »die Wilde« in David Schalkos Miniserie »M – Eine Stadt sucht einen Mörder« (2019) ihren Weg ohne jede Rücksicht auf gesellschaftliche Erwartungen oder Ansprüche gehen. Oder sie entscheidet sich für künstlerische und filmische Experimente wie die Arbeiten von Max Linz. »Weitermachen Sanssouci« (2019), Linz' zweiter Spielfilm, und »L'état et moi« (2022) sind nicht nur grandiose Grotesken, in denen Linz das Exzellenzstreben des deutschen Universitätsbetriebs und die autoritären Grundlagen des deutschen Rechtswesens auf satirische Weise entlarvt. Sie atmen zugleich den Geist, der Rois zufolge auch das Werk von Castorf, Schlingensief und Pollesch ausmacht, diese Liebe zum Risiko und die Bereitschaft, auch mal anzuecken und zu provozieren. So kann sie sich auch heute noch gegen den überall herrschenden Leistungs- und Optimierungsdruck stellen. Denn mit Linz und mit Nicolette Krebitz hat sie Partnerinnen gefunden, die die Freiheiten der Kunst ebenso hoch schätzen wie sie.
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