Kritik zu Spider
Cronenberg inszeniert das schizophrene Erleben eines jungen Mannes mit unbestechlicher Rationalität und kompromissloser Strenge.
Der jüngste Film des kanadischen Regisseurs David Cronenberg lief vor zwei Jahren in Cannes im Wettbewerb, wurde auf kleineren Festivals prämiiert und von Kritikern in Übersee gerühmt. Jetzt hat die perfekt exekutierte psychologische Studie endlich auch unsere Kinos erreicht.
Menschen steigen aus einem Zug. In einer langsamen Fahrt bewegt sich die Kamera gegen den Strom der Pendler, die dem Ausgang des Bahnhofs zustreben. Das für David Cronenberg unübliche Intro zeigt mit dokumentarischer Nüchternheit ein Stück intakter Welt. Erst am Ende der Einstellung steigt ein heruntergekommener Mann aus dem Zug, vorsichtig, als wäre der Bahnsteig aus dünnem Eis. Er trägt einen Pappkoffer und sieht in seinem zerknitterten Mantel aus wie ein Clochard. Ängstlich und irritiert blickt er um sich, murmelt kaum verständliche Satzfetzen. Plötzlich ist der Zuschauer wieder mitten in der verstörenden Cronenberg-Welt, genauer gesagt: in Spider.
Ralph Fiennes, der dieses Projekt initiiert hat, spielt mit hypnotischer Intensität erneut einen "englischen Patienten": 20 Jahre hat Dennis Cleg, von seiner Mutter Spider genannt, in einer psychiatrischen Anstalt verbracht. Seine Welt ist zerborsten in drei Erlebnis- und Erinnerungsebenen, die der verstörte, hilflos vor sich hinnuschelnde Mann in Verbindung zu bringen versucht. Auf der ersten Ebene zieht Spider in einer tristen Pension für Psychiatrie-Freigänger ein, in der man den Mief verkochten Porridges förmlich riechen kann. Von hier aus unternimmt er Erkundungsgänge in das wie ausgestorben wirkende Industriequartier des Londoner East Ends. Zugemauerte Fensterfronten und die unwirkliche Nähe eines gespenstischen Gasometers deuten an, dass Spiders Welt irgendwann in den sechziger Jahren stehen geblieben ist.
Auf seinen Gängen kommt Spider in die nahe Kitchener Street, wo sein Elternhaus steht. Der Weg führt zugleich in die zweite Erzählebene, seine Kindheit, wo er das Rätsel um den Tod seiner Mutter zu lösen versucht. Auf der dritten filmischen Ebene schließlich zeigt Cronenberg in kurzen Einstellungen die Zeit dazwischen, die Spider in der Psychiatrie verbrachte. Nur in der geschlossenen Anstalt ist der Horizont offen, scheint die Sonne. Nur hier sieht man Spider einmal lächeln.
Spider versucht sich zu erinnern. Schritt für Schritt rekonstruiert er die Vergangenheit in einem Tagebuch. In Patrick McGraths gleichnamiger Romanvorlage bezeugt allein dieses Tagebuch die Erlebnisse Spiders. So krankt der Roman daran, dass der schizophrene Spider trotz seiner tunnelblickartigen Erlebnisweise literarisch formvollendete Schilderungen der Neurosen seiner Eltern gibt. Dieses Problem der Vorlage löst Cronenberg mit einem einfachen, aber wirkungsvollen Kunstgriff: In halluzinativen Zeitreisen lässt er Spider immer wieder in die Vergangenheit zurückkehren. Als geisterhafter Beobachter und Regisseur zugleich, der seine Erinnerungen gemäß der Logik seines Wahns neu konstruiert, sieht Spider durch die Fenster seines Elternhauses sich selbst als Kind mit der Mutter am Küchentisch sitzen. Er halluziniert eine harmonische Welt aus Mutter und Kind - in die der Vater als Störenfried einbricht. Als kleiner Ödipus beobachtet Spider Mutter und Vater in einer erotischen Szene, die seinen Glauben an die "gute" Mutter nachhaltig zerstört. Die Mutter als sexuelles Wesen ist eine unerträgliche Vorstellung. So halluziniert Spider ihre Spaltung - die der erwachsene "Beobachter" schreibend als eine "Geschichte" rekonstruiert: Der Vater geht mit der Hure Yvonne fremd, einer angemalten Megäre, die alles verkörpert, was für einen pubertierenden Jungen an einer Frau bedrohlich sein kann. Erst auf den zweiten Blick wird erkennbar, dass Mutter und Hure von Miranda Richardson gespielt werden ...
Als die Mutter ihren Mann mit dieser Hure in flagranti überrascht, erschlägt er sie und verscharrt ihre Leiche im Kartoffelbeet: Ja, so muss es gewesen sein! - denn wieder erlebt Spider die Szene als unsichtbarer Beobachter "live" mit. Und je weiter er der Logik seiner "Erinnerungen" folgt, desto plausibler erscheint dieses Szenario. In der Gewissheit, dass der Vater die Hure zu seiner neuen Frau gemacht hat, tötet er die "böse" Mutter, indem er quer durchs Haus einen Bindfaden spinnt, mit dem er von seinem Zimmer aus in der Küche den Gashahn öffnet. Doch als Spider am Ende seines "Films" damit konfrontiert wird, dass er nicht die Hure, sondern die Mutter getötet hat, zerbricht sein Weltbild erneut.
Mit Spider ist David Cronenberg ein faszinierendes Stück Erzählkino gelungen. Wie Die Unzertrennlichen bebildert der kammerspielhaft konzentrierte Film das wahnhafte Erleben nicht durch fantastische Elemente oder Spezialeffekte. Und wie bereits in Videodrome und Naked Lunch gibt es keinen objektiven Standpunkt, von dem aus der Film den Wahn "diagnostizieren" würde. Von den monochromen, an Beckett erinnernden Bildern, über den zeitlupenartigen Rhythmus und die sorgfältige Ausstattung bis zur kompromisslos durchgehaltenen Erzählperspektive ist der Film eine hermetische Projektion von Spiders Gedanken. Die schnörkellose Strenge dieses ausgereiften Werks schlägt den Zuschauer in den Bann - oder sie entlässt ihn mit einem Achselzucken.
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