Kritik zu Stoker

© 20th Century Fox

Die erste englischsprachige Produktion von Park Chan-wook: ein dunkles Märchen über die Geheimnisse einer Familie, über das Erwachsenwerden und das Böse mit Nicole Kidman und Mia Wasikowska in den Hauptrollen

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3 (Stimmen: 1)

Es ist eine fremde, seltsame Welt, in die Stoker den Zuschauer führt. Fast der gesamte Film spielt in einer ländlichen Villa inmitten eines verwunschenen Parks. Dieses Reich einer Kindheit scheint ganz aus der Zeit, ja aus der Welt gefallen. Nachdem der geliebte Vater der gerade 18 gewordenen India (Mia Wasikowska) bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, sind Mutter (Nicole Kidman) und Tochter hier nun auf sich allein gestellt. »Wie im Märchen: Königin und Prinzessin, gefangen in ihrem Schloss«, so wollte Park Chan-wook sie darstellen, und das ist ihm gelungen, insbesondere dank des wunderbaren Produktionsdesigns von Thérèse DePrez.

Bei der Beerdigung des Vaters betritt ein Onkel Indias die Bühne, von dessen Existenz sie bisher nichts wusste. In der ganzen Welt ist er herumgereist, und nun möchte er sich um die Familie seines Bruders kümmern. Sein Name ist Charlie – bei Hitchcock-Kennern läuten da schon die Alarmglocken, denn in Im Schatten des Zweifels war das der Name des scheinbar lieben Onkels, der sich dann als ziemlich böser Witwenmörder herausstellte. So elegant und kultiviert wie damals Joseph Cotten tritt in Stoker auch Matthew Goode auf, doch selbstverständlich ahnt man finstere Geheimnisse hinter dem freundlichen Äußeren. Und hat dieser Charlie nicht auch ein wenig Ähnlichkeit mit Norman Bates? Oder könnte sich hier wie in Parks Film Durst eine Vampirgeschichte anbahnen, die doch der Familienname Stoker suggeriert?

Zunächst jedenfalls lehnt India den Onkel, der verschwörerisch ihre Nähe sucht, von ganzem Herzen ab, während ihre höchst labile Mutter Evelyn sehr von ihm angetan ist, ein wenig zu sehr sogar. Das ohnehin schwierige Verhältnis von Mutter und Tochter verkompliziert sich,´glänzend dargestellt von zwei sehr gegensätzlichen Schauspielerinnen: Evelyn, maskenhaft und starr, wird verkörpert von Nicole Kidman, deren Gesicht seit Jahren immer mehr ins Verstörende geht. Und Mia Wasikowska beweist als India abermals, welch großartige Charakterdarstellerin sie ist, mit Introvertiertheit und Unschuld, hinter denen jedoch ein gefährlicher Lebenshunger rumort. Indias Vorbehalte gegenüber ihrem Onkel weichen immer mehr einer Faszination und durchaus erotischen Anziehung, als einige merkwürdige Dinge geschehen. So verschwindet erst eine Haushälterin spurlos, dann auch Tante Gin, die sich angesichts von Charlies fürsorglicher Belagerung der Familie um India sorgte.

Wie in seinen koreanischen Filmen entwirft Park Chan-Wook auch in Stoker ein hochartifizielles Setting und erzeugt eine Atmosphäre von beunruhigender und zugleich lustvoller Ungewissheit. Das Drehbuch, es ist das erste aus der Feder des »Prison Break«-Schauspielers Wentworth Miller, scheint zwar zunächst aus Hitchcock- und Gothic-Elementen zusammengepuzzelt. Doch Park generiert faszinierende Ambivalenzen – es ist die Gestaltung, die Stoker spannend und abgründig macht. Weit über den referenziellen Charakter hinaus atmet alles in diesem filmischen Kosmos Geheimnis, gehen Familiendrama, Psychothriller und die Geschichte eines sexuellen Erwachens fließend ineinander über.

Die berauschende Schönheit der Fotografie mit ihren kräftigen, wiederum an Hitchcocks Technicolor-Filme erinnernden Farben und gleitenden Plansequenzen geht dabei Hand in Hand mit einem Sounddesign, das Beiläufigkeiten immer wieder ins Hyperrreale steigert: das Geräusch des Atems, wenn ein Weinglas an den Mund geführt wird, das Knistern der Schale, wenn India ein Ei über den Küchentisch rollt, um es zu schälen. Solche halluzinatorischen Überhöhungen, manchmal schwelgerisch, öfter aber irritierend eingesetzt, erzeugen beim Zuschauer produktive Verunsicherung. Das Schwebende des Films betonen zudem surreale Metaphern, etwa eine zartgliedrige Spinne, die an Indias Strumpfhose hinaufwandert, oder die Detailaufnahme von Haaren, die in die windbewegten Gräser einer Wiese überblenden.

Unterdrückte Aggression lauert von Anfang an in dieser Märchenwelt, und wenn sie ausbricht, sind die Bilder verstörend. Unschuld und Grausamkeit gehen darin eine selbstverständliche Verbindung ein, denn Erwachsenwerden, das heißt hier auch: das Böse in sich entdecken.

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