Streaming-Tipp: »Der Schacht«
Als Goreng eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte – fand er sich in seinem Bett nicht in einen Käfer verwandelt. Seine Situation in einer Zelle mit grauen Betonwänden ist aber nicht minder kafkaesk. Der Mitgefangene, ein verdruckster, unsympathischer Typ namens Trimagasi, klärt den Neuankömmling mit dürren Worten auf. Man befindet sich auf Ebene 48. Wie viele Zellen mit je zwei Delinquenten unterhalb noch folgen, ist ungewiss. In der Mitte des Raumes befindet sich ein offener Aufzugsschacht. Einmal täglich wird eine Festtafel heruntergefahren mit den Resten eines erlesenen Buffets, übrig gelassen von denen, die sich zuvor schadlos hielten. Werden Goreng und Trimagasi Rücksicht nehmen auf diejenigen, die unten hungern?
Um dieses verdichtete Sinnbild herum hat der Spanier Galder Gaztelu-Urrutia sein fulminantes Langfilmdebüt realisiert. Einen Verleiher für diese abgründige Stilübung suchte er vergeblich, schließlich nahm Netflix den Genrefilm ins Programm. Dort avancierte das dystopische Kammerspiel ganz ohne flankierendes Marketing zum Publikumserfolg.
Euphorische Besprechungen lobten »Der Schacht« als allegorische Kapitalismuskritik. Die Versuchsanordnung aus Bong Joon-hos »Snowpiercer«, wo die Reichen in einem Zug vorne und die Armen hinten sitzen, so der Tenor, wurde von der Horizontalen in die Vertikale gespiegelt. Nicht wirklich gerecht wird diese Lesart dem Film, dessen beklemmende Hermetik nur durch zwei kurze Szenen gebrochen wird. Zu Beginn werden die von oben nach unten durchgereichten Speisen in einer Feinschmeckerküche zubereitet. In einer Rückblende ist Trimagasi zu sehen, der bei einem Vorstellungsgespräch die Gegenleistung für seinen freiwilligen Aufenthalt im Schacht aushandelt: einen gültigen Universitätsabschluss.
Dank solch wunderbar skurrilen Wendungen erweist die vulgärmarxistische Botschaft sich bald als bloßer Köder. Gemäß der Logik des Locked-in-Thrillers sollen Delinquenten in dieser perversen Versuchsanordnung auf ihre niedersten Instinkte reduziert werden. So bleiben den Häftlingen in diesem hinterlistigen »Food Porn« jeweils nur Sekunden, um sich den Mund vollzustopfen. Wer Vorräte anlegt, wird gegrillt. Motiv des Films ist die Hervorkehrung antizivilisatorischer Impulse, die in verschiedenen Versionen durchdekliniert werden.
Zeigen, wozu der Mensch fähig ist, dieses Muster ist bekannt. Zu einem Ereignis wird »Der Schacht«, weil es im Gegensatz etwa zu »Saw« keine vorgeschriebene »Lösung« gibt. Revolution, glaubt Goreng, ist nur durch Verweigerung möglich. Wird aus einer ausgewählten Speise, der zurückgewiesenen Panacotta, eine Hostie? Wird Nahrung zum sakralen Symbol? Ist das der Ausweg? Diese Fragen bleiben auf verstörende Weise offen. Der ominöse Demiurg im Hintergrund, der Betreiber des Schachtes, offenbart nicht, was er will. Das Ende bleibt offen.
In dieser Mischung aus absurdem Theater, Splatter und Groteske überzeugt nicht jede Wendung und nicht nur, weil die einzige Frauenfigur ein entsubjektiviertes Mysterium bleibt, ist »Der Schacht« tendenziell ein nerdiger »Männerfilm«. Doch einem frühen Cronenberg nicht unähnlich, gelingt Gaztelu-Urrutia mit dem Nebeneinander von Trash und Tiefsinn ein überraschender Wurf.
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