Kritik zu Snowpiercer
Bong Joon-ho hat seine Genrefilme (»Memories of Murder«, »The Host«) bisher als grimmige Parabeln auf die südkoreanische Gesellschaft angelegt. Mit seinem ersten englischsprachigen Film zeigt er sich als Meister erzählerischer Zweigleisigkeit
In der Geschichte der Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts fällt der Eisenbahn eine zentrale und verheerende Rolle zu. Während sie in Europa vor allem Assoziationen zur Deportation der Juden weckt, steht sie in Korea für die Barbarei der japanischen Besatzer, weckt aber auch schmerzhafte Erinnerungen an Flucht und Panik während des Koreakriegs. Bong Joon-hos neuer Film spielt zwar in einer nahen Zukunft, die historischen Traumata bilden jedoch seine Grundierung.
Snowpiercer beruht auf der Graphic Novel »Transperceneige«, der in den 80er Jahren in Frankreich erschien. Er setzt 17 Jahre nach einem fehlgeschlagenen Experiment ein, das zum Ausbruch einer neuen Eiszeit führte. Die Überlebenden haben in einem Schnellzug Zuflucht gefunden, der unaufhörlich um den Globus rast. Die elenden Passagiere des hinteren Zugteils sind zusammengepfercht wie in einem KZ; einer der Aufseher ist ein japanischer Offizier: Der in der Zeit der südkoreanischen Militärdiktatur aufgewachsene Joon-ho versteht es, Actionfilmen eine Parabel als zweite Ebene einzuziehen.
In dieser Arche herrscht ein rabiat austariertes Gleichgewicht aus Mangel und Luxus. Als filmischer Mikrokosmos funktioniert die Mehrklassengesellschaft prächtig, als Allegorie steht sie auf wackligen Beinen, da die Elenden keine Arbeitskraft darstellen, die ausgebeutet werden könnte. Aber der Klassenkampf hat gewissermaßen die Apokalypse überlebt. Eine Revolte bricht aus, deren Anführer Curtis (Chris Evans) auf Geheiß seines greisen Mentors Gillam (John Hurt) an der Spitze des Zuges die Macht an sich reißen soll. Die Tore zu den jeweils nächsten Waggons soll der drogensüchtige Sicherheitschef (Song Kang-ho) des Zuges öffnen; seine Tochter (Ko Ah-sung) verfügt über nützliche hellseherische Fähigkeiten. Den Aufständischen stellen sich martialische Hindernisse in den Weg, die sie jedoch findig überwinden. Es ist eine mythische Reise, bei der jeder Wagen eine symbolische Etappe darstellt und an deren Ende die Konfrontation mit dem Milliardär Wilford (Ed Harris) steht, der den Zug konstruiert hat und wie ein Gott verehrt wird.
Das Drehbuch übernimmt aus der Vorlage nur die Ausgangssituation. Bong Joon-ho hat sie auf seinen Stil zugeschliffen. Wie in The Host und Mother ist sein erzählerischer Impuls die Ermächtigung der Außenseiter und Verlierer.
Snowpiercer changiert zwischen Satire – im Kern verhandelt er das Motiv der politischen Lüge –, Ökothriller, Melodram und Slapstick. Die Komposition der Haupt- und Zwischentöne orchestriert er rasant. Der Metaphorik verleiht er stets konkrete Gestalt. Man schaue nur einmal, welch unterschiedliche Bedeutung Arme in seinem Film gewinnen: als Instrument der Strafe, als Träger von Botschaften, als Brandmale von Schuld und Opfer. Er ist ein Meister darin, Drehbüchern eine raffinierte, tragfähige Symmetrie zu verleihen, die die filmische Realität regelmäßig neu justieren: Jeder Dialogsatz, der am Ende des Zuges gesagt wird, erhält an dessen Spitze einen anderen Klang.
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