Kritik zu Beale Street
Mit »Moonlight« hat Barry Jenkins sich fast aus dem Stand als neue schwarze Stimme im US-Kino etabliert. Jetzt startet »Beale Street«, seine Adaption eines Romans von James Baldwin
Der Geburtsname von Tish lautet Clementine. Da wäre es naheliegend, dass alle Welt sie »Clem« nennt. Aber alle rufen sie »Tish«. Ihr Freund Fonny wurde als Alfonso geboren. Warum kein Mensch ihn »Lonnie« nennt, ist ihr ein Rätsel. Aber wenn sie es genau bedenkt, ergibt auch sein Kosename einen Sinn.
Tish (KiKi Layne) hat ohnehin ihre ganz eigene Art, die Welt zu betrachten. Ihre Erzählstimme gibt den Ton vor, in dem Barry Jenkins seinen neuen Film erzählt. Dasselbe gilt für den Roman von James Baldwin, auf dem »Beale Street« (im Original wie das Buch: »If Beale Street Could Talk«) beruht. Er ist in einer subjektiven Prosa verfasst, die sich wundervoll an die Bilder des Films schmiegt. Sie trifft Unterscheidungen, will alles präzise benennen. Die Welt steckt voller Nuancen, denen Tish gerecht werden will. Mit 19 strebt man danach zu begreifen, wie die Dinge wirklich sind. Tishs Blick auf ihr Leben als Schwarze im Harlem des Jahres 1974 ist unschuldig, aber nicht arglos. Seit »Zeit der Unschuld« hat es keinen US-Film gegeben, dessen Off-Kommentar so präzise den Ton seiner literarischen Vorlage trifft.
Manchmal korrigiert Tish sich, will etwas klarstellen, das sie zuvor vergessen hat zu erwähnen. Dann blendet der Film zurück: so flink, wie ein Autor einen Nebensatz einflicht. Tishs Erzählung bewegt sich frei zwischen Gegenwart und Vergangenheit, ihre Erinnerung ist ganz unmittelbar. Aber der Zuschauer weiß stets, auf welcher Zeitebene er sich gerade befindet. James Laxtons Kamera taucht die Rückblenden in helleres Licht und legt dunklere Schatten über die Gegenwart.
Tish und Fonny (Stephan James) sind seit ein paar Jahren ein Paar. Dass sie seit ihrer Kindheit unzertrennlich sind, ist wie eine Besiegelung ihrer Liebe: Sie ergibt einen Sinn. Zu Beginn des Films besucht sie ihn im Gefängnis. Er ist angeklagt, eine Einwanderin aus Puerto Rico vergewaltigt zu haben. Ihre Familien wissen, dass Fonny zu so einer Tat nicht fähig ist. Und Tish kann ihm ein Alibi geben: Er war mit ihr und einem Freund zusammen. Aber die Aussage einer Schwarzen hat 1974 nicht viel Gewicht vor einem amerikanischen Gericht. Nun, am Anfang, eröffnet Tish ihm, dass sie schwanger ist. Das ist ein großes Glück für beide, auch wenn ihre Hoffnung gering ist, dass er bald aus der Haft entlassen wird. Es ist auch ein großes Glück für Tishs Familie und könnte eines für die von Fonny sein, wäre seine Mutter nicht so bigott.
Barry Jenkins besitzt, das ist schon in »Moonlight« zu sehen, ein souveränes Gespür für Atmosphäre, für das, was an Emotionen zwischen Menschen und in Räumen zirkuliert. Kaum ein anderer Regisseur der Gegenwart kann das Timbre eines Moments so stimmig einfangen; nur wenige können eine solch einnehmende Nähe zu ihren Charakteren herstellen. In »Beale Street« erweckt er, inspiriert von der Straßenfotografie von Gordon Parks und Jack Garofalo, eine Epoche zu pulsierendem Leben, in der er noch nicht geboren war. Es gelingt ihm, einem Melodram romantische Integrität zu verleihen, das der harschen Realität trotzt, ohne die Augen vor ihr zu verschließen. Ohne die Perspektive von Tish wäre das nicht gelungen; sie filtert den Zorn, den ihr Autor empfand.
Der James Baldwin, der in Jenkins' Film zu entdecken ist, unterscheidet sich auf den ersten Blick von dem unerbittlich streitbaren Schriftsteller, als den ihn Raoul Peck in »I Am Not Your Negro« porträtiert. Sein Dokumentarfilm beruht in wesentlichen Zügen auf einem unvollendeten Manuskript, aus dem Samuel L. Jackson liest. Peck konzentriert sich auf die politische Strahlkraft des Autors. Er erscheint als furchtloser Vorkämpfer, den sein lebhafter Antirassismus und seine offen gelebte Homosexualität auch ins Visier des FBI brachten. In Interviewausschnitten, vor Studenten in Harvard oder als Gast in Dick Cavetts Talkshow, formuliert Baldwin seine Positionen mit einer beißenden analytischen Schärfe, die keinen Widerspruch zulässt. Wenn er den Dialog sucht, dann mit der Zukunft. Auch in Pecks Film ist das Schillern dieser Persönlichkeit zu spüren, auch er versucht, ihm mit chromatischen Differenzierungen, dem Wechsel zwischen Schwarzweiß und Farbe, beizukommen.
Baldwin liebte das Kino innig. An dieser Liebe hielt er noch fest, nachdem er es längst als eine Lüge der Weißen durchschaut hatte. In seiner Essaysammlung »The Devil Goes to Work« (»Teufelswerk«) unternimmt er den Versuch einer Gegengeschichtsschreibung, die gern alternative Wege entdeckt hätte, die das US-Kino hätte beschreiten können. Ihr Autor musste verzweifeln, aber sie bleibt das schöne Zeugnis einer Hingabe.
Es ist erstaunlich, wie wenig Spuren dieser Schriftsteller bisher im Film hinterlassen hat. In den USA lief 1985 eine Fernsehbearbeitung von »Go Tell It on the Mountain«; bis zu Jenkins' Film entstand nur eine einzige Leinwandadaption: Robert Guédiguians »À la Place du Coer« (Die Farbe des Herzens) von 1998 beruht ebenfalls auf »If Beale Street Could Talk«. Der französische Film weist, obwohl sich Ambiente und Temperament der Darsteller sehr von der Vorlage entfernen, eine verblüffende Werktreue auf. Viele Dialoge und Passagen des Erzählkommentars sind wörtlich aus dem Roman übernommen. Der Rassenkonflikt ist ein anderer: Guédiguians Version von Tish (ihr Kosename lautet »Clim«) ist weiß, das Gegenstück zu Fonny – hier Bébé – ist schwarz. Es ist einer der ganz wenigen Filme des Regisseurs, der tatsächlich in Marseille spielt und nicht im Vorort L'Estaque: Dieser Stoff verlangt Urbanität. Die Polizeigewalt besitzt zunächst eine beharrliche visuelle wie akustische Präsenz im Hintergrund. Aber während für Baldwin der mächtigste Feind seiner Liebenden Amerika ist, mag Guédiguian seiner Stadt diese Rolle nicht antragen. Er hält im Kino gern den Glauben an Utopien wach (er ist Mitproduzent von Raoul Pecks Film über den jungen Karl Marx); sie ruht in der Würde der schlichten, aufrichtigen Gesten seiner Figuren. Guédiguians Verfilmung ist luftig-mediterran, aber auch prosaischer. Das ist kein Fehler. Sie nimmt eine andere gesellschaftliche Realität in den Blick: Die hohe Arbeitslosigkeit schmälert die Zukunftsaussichten des jungen Paares; als Bébé Clim vor ihrer ersten Liebesnacht versichert, er habe nie Drogen genommen, besitzt dies nach dem Ausbruch der Aids-Epidemie einen anderen Klang.
Der französische Regisseur entdeckt in dem amerikanischen Autor einen Seelenverwandten. Er versteht dessen Wut und dessen Zärtlichkeit. Sie können einen Pakt eingehen mit dem feierlichen Spiel seiner Darsteller und dem fremden Schauplatz. Barry Jenkins schließt einen anderen Pakt mit Baldwins Roman. In der Szene, in der die Mutter ahnt (vielleicht schon längst weiß), dass ihre Tochter schwanger ist, genügen Guédiguian eine halbtotale Einstellung und der warmherzige Blick Ariane Ascarides. Jenkins hingegen markiert diesen Moment in einer Schnittfolge, die Baldwins Syntax magisch übersetzt. Bei ihm sind die Darstellerblicke in einer Filmsprache aufgehoben, die üppiger und prunkender ist. Er erobert ihr neue sinnliche Zuständigkeiten. Er hegt eine selbstbewusste Art von Treue, die das Original respektiert, aber weiß, dass daraus auf der Leinwand etwas anderes werden muss.
Diese Haltung zeigte er schon in »Moonlight«, wo er die Aktstruktur von Tarell Alvin McCraneys Bühnenvorlage beibehält, deren kluge Ellipsen die Fantasie des Publikums anspornen. Diese erzählerische Konzentration stellt eine immense Nähe zu den Charakteren her: Wir glauben genau zu wissen, was ihnen in der Zwischenzeit widerfahren ist. Dieses Wissen um die Prägung durch Zeit und Gesellschaft gewinnt in »Beale Street« eine ebenso intime wie epische Dimension. Die Geschichte von Tish, Fonny und ihren Familien vollzieht sich als eine Kaskade der Gefühle und Stimmungen. Jenkins zeichnet eine Folge von Porträts, die in ihrer individuellen Präzision eine weitergehende Relevanz gewinnen. Für Baldwin ist kein Figurenschicksal beziehungslos; die persönliche Erfahrung ist für ihn untrennbar mit politischer Bewusstwerdung verknüpft. Sein Romantitel versteht sich (wie der von »Moonlight«) als Metapher für afroamerikanische Biografien. Jenkins' Film ist ein nahes Echo des Buches. Der Regisseur ist sich seiner eigenen Stimme so gewiss, dass er die von Baldwin nicht verstummen lassen muss.
Jetzt, wo die Geschichten erzählt werden können, die vorher nicht erzählt wurden, wird es sicher mehr Verfilmungen seiner Bücher geben. Dieses Anknüpfen würde nicht der Logik gehorchen, aus der heraus einst Verfilmungen von Stephen King oder John Grisham in Serie gingen. Es besäße eine andere Dringlichkeit. Baldwin war ein so wachsamer Zeitgenosse seiner Epoche, dass die Gegenwart schlecht auf ihn verzichten kann. Seine Eloquenz lieferte nicht nur der Bürgerrechtsbewegung der 60er ein Instrumentarium, sondern lässt ihn auch als Vordenker der heutigen »Black Lives Matter«-Bewegung erscheinen. Raoul Pecks Film schlägt hier beklommene, triftige Bögen: Er wirft Schlaglichter auf Exzesse rassistischer Polizeigewalt aus jüngerer Zeit (die Prügelattacke auf Rodney King, das Massaker von Ferguson), die auf Anhieb nicht von den historischen Aufnahmen aus den 50er und 60er Jahren zu unterscheiden sind.
»I Am Not Your Negro« führt vor, dass sich eine filmische Erschließung von Baldwins Werk nicht auf seine Romane beschränken müsste. Die Klarheit und Bestimmtheit, mit der er seine Position vertrat, könnte kluge Essayfilme hervorbringen. »The Devil Goes to Work« wäre eine exzellente Basis für eine dokumentarische Revision der Filmgeschichte. Aber »Beale Street« führt vor Augen, wie sehr dem Kino bisher der Romancier gefehlt hat, der voller Zorn auf die USA blickte und voller Zuneigung auf die, die dort leben. Es ist schwer vorstellbar, dass nicht irgendjemand bereits eine Option auf »Giovannis Zimmer« von 1956 hält. Es war der erste amerikanische Roman, in dem junge schwarze Homosexuelle sich wiedererkennen konnten. Er sprach und spricht für Generationen.
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