Kritik zu Moonlight
Vom Aufwachsen unter schwierigen Umständen: Chiron lebt in einer Sozialbausiedlung, seine alleinerziehende Mutter ist drogensüchtig, die Mitschüler drangsalieren ihn. Barry Jenkins aber erzählt davon in sinnlichen Bildern, die frei sind von den Klischees des sozial engagierten Kinos
Vom Filmplakat herab blickt mit ruhiger Miene ein schwarzer Mann; es ist ein stilles Gesicht, und doch liegt in seinem Blick so etwas wie der Anflug einer Frage oder einer Aufforderung: Will mich denn niemand (er)kennen? Will niemand wissen, wer ich eigentlich bin? Schaut man genauer, erkennt man, dass sich das Gesicht aus drei – farblich differenzierten – Gesichtern zusammensetzt: dem eines Jungen, dem eines Teenagers, dem eines Mannes: Little, Chiron und Black. So die drei Namen, die die Hauptfigur in drei Phasen ihres Lebens trägt und die den drei Kapiteln des Films ihre Titel geben. Little (Alex Hibbert) nennen die Mitschüler den schmächtigen, schweigsamen Jungen, den sie hänseln und den ein Drogendealer unter seine Fittiche nimmt. Chiron (Ashton Sanders) heißt der in sich gekehrte Teenager, dem ein kurzer Moment des Glücks vergönnt ist, bevor ihn die Verhältnisse erneut in die Mangel nehmen. Black (Trevante Rhodes) ist der Gang-Name des erwachsenen Mannes, der sich eingerichtet hat in einer kriminellen Existenz – und vielleicht doch noch einen Ausweg findet.
»Moonlight« von Barry Jenkins ist vieles: die Coming-of-Age-Geschichte eines schwulen Afroamerikaners unter schwierigen Bedingungen; eine allgemeingültige Geschichte darüber, wie es ist aufzuwachsen, wenn man auf vielfache Weise ausgegrenzt wird; eine Geschichte über schwarze Männlichkeit, »im Speziellen«, so Jenkins, »über schwarze Männlichkeit in sozial schwachen Gegenden amerikanischer Großstädte«. Zugleich verwendet »Moonlight« autobiografische Motive aus den Leben zweier Männer: dem von Filmemacher Jenkins und dem des Dramatikers Tarell Alvin McCraney. Dessen Stück-Entwurf In »Moonlight: Black Boys Look Blue« diente Jenkins als Grundlage seines »Moonlight«-Drehbuches, in das er auf diese Weise seine eigenen Erfahrungen leichter einfließen lassen konnte.
Ohne einander zu kennen, wuchsen McCraney (Jahrgang 1980) und Jenkins (Jahrgang 1979) zu Zeiten der Crack-Epidemie in der Sozialsiedlung Liberty City, Miami, auf – dem Handlungs- sowie Drehort des Films – und besuchten dieselben Grund- und weiterführenden Schulen. Beider Kindheit war geprägt von überlasteten Müttern, die bereits als Teenager erstmals schwanger geworden waren, schließlich drogensüchtig wurden und in der Folge HIV-positiv. (McCraneys Mutter ist an den Folgen von Aids verstorben, Jenkins' Mutter lebt heute ohne Drogen.) Sowohl McCraney als auch Jenkins waren in wechselnden Pflegefamilien untergebracht und wuchsen in Armut auf. Und sowohl McCraney als auch Jenkins gelang schließlich der Absprung aus einem Milieu, das krumme Lebensläufe wie am Fließband produziert. Man kennt sie aus Filmen.
Auch »Moonlight« kennt die Klischees: die crackabhängige alleinerziehende Mutter; den irgendwie väterlichen Dealer; die patente schwarze Lady mit dem großen Herzen; den guten Jungen, der verloren zu gehen droht; die drangsalierenden Mitschüler und den großmäuligen Anführer; den guten Freund; das Ghetto und den Knast. Sie tauchen alle auf, diese stereotypen Figuren und Gegebenheiten, die vorgeben, afroamerikanisches Leben zu erfassen. Doch sind sie hier gewendet auf eine Weise, die Stereotyp und Klischee entlarvt, die den Blick befreit und hinlenkt auf etwas, das dahinter liegt und das der Mensch in seinen Umständen ist. »Moonlight« erzählt von der stur zerstörerischen Mechanik des Ghettos nicht sensationalistisch in Form von Gang-Auseinandersetzungen, sondern konzentriert auf das Motiv der Zurichtung zu einer gewalt-geprägten Männlichkeit, dem letztlich eine Absage erteilt und das überwunden wird. Die reflektierte autobiografische Wahrheit, das Selbst-Erlittene und der eigene Schmerz, die in diesem Film stecken, infizieren, wenn man so will, seine emotionale Textur durchgängig als Hoffnung: Der Teufelskreis kann durchbrochen werden, Jenkins, McCraney und Little-Chiron-Black sind dafür der Beweis.
Zahlreiche Auszeichnungen hat »Moonlight« seit seiner Premiere beim Telluride Film Festival im September 2016 eingesammelt, darunter acht Oscarnominierungen. Das, was diese in Preisen sich niederschlagende Begeisterung auslöst, ist unmittelbar zu sehen, aber schwer zu beschreiben. Nicht zuletzt weil es genau auf der Grenze liegt zwischen Sprachlosigkeit und Artikulation. Es steckt im Licht und in den Farben Floridas, in den genauen Bewegungen der Kamera, in den Schärfenverlagerungen. In einem filmischen Blick, der das Geschehen eher erspürt als darstellt und der mit Bildern berührt, deren Bedeutung nicht bis ins Letzte festgelegt ist. Damit korrespondiert, dass Jenkins dramaturgisch überwiegend mit Szenen arbeitet, in denen zwei Menschen miteinander agieren. Sie tun dies nicht unbedingt wortreich, doch ihre Worte haben Gewicht, ebenso wie die Pausen, die nicht einfach nur Schweigen sind, sondern in denen Gefühl und Gedanken mitschwingen. Es geht in diesen Interaktionen immer auch um die Schwierigkeit, sich einander ehrlich mitzuteilen und aufrichtigen Kontakt herzustellen über einen mit Angst und Verunsicherung gefüllten Abgrund hinweg. Zentral für das Gelingen dieser Gratwanderung ist die Besetzung. Und die Besetzung von »Moonlight« ist perfekt. Herausragend agiert Mahershala Ali in der Rolle des Dealers Juan, der zu Beginn auf den verängstigten Jungen aufmerksam wird. Das Hauptdarsteller-Trio jedoch – Alex Hibbert als Little, Ashton Sanders als Chiron und Trevante Rhodes als Black – erweicht Steine.
Die gefühlte Distanz und der Versuch, sie zu überwinden, sie sind auch schon Thema in Jenkins erstem Film, dem in Schwarz-Weiß gedrehten »Medicine for Melancholy« (2008). Ähnlich »dialogisch« aufgebaut, folgt Jenkins hier zwei jungen Mittelschicht-Afroamerikanern, Micah und Jo', die nach einem offenbar schwer berauschten One-Night-Stand zunächst reichlich befangen durch San Francisco wandern, dies und das und jenes unternehmen und sich unterwegs über schwarze Identität in Relation zur weißen Mehrheit austauschen. Zwischen Annäherung und Konfrontation wachsen und vergehen Gefühle der Zugehörigkeit und der Zuneigung. Ein wahrhaft melancholischer Erstling, der seinerzeit einiges Aufsehen erregte; der erhoffte Durchbruch blieb allerdings aus, und Jenkins' »Next big thing«-Lorbeeren gingen zunächst einmal in den Mühen der Ebene verloren. Bis jetzt.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns