Interview mit Raoul Peck über seinen Film »Der junge Karl Marx«
Raoul Peck. © Lydie Sipa
Monsieur Peck, Ihr Film endet mit dokumentarischen Aufnahmen, darunter auch Bildern der »Jubelperser«, die während des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 vor dem Schöneberger Rathaus mit Holzlatten auf Anti-Schah-Demonstranten einprügelten. Sie studierten an der Berliner Filmschule, der dffb. Haben Sie diesen Moment persönlich miterlebt? War er wichtig für Ihre eigene Geschichte?
Mir ging es um das Generelle: mit den Archivbildern wollte ich einen Kreis schließen, der damit begonnen hat, dass die drei jungen Leute, die ich im Film zeige, die Welt verändern wollten. Ich wollte damit zeigen, der Wille zur Veränderung war damit nicht vorbei. Die geschichtliche Entwicklung hat zu Weltkriegen geführt, zum Kolonialismus, zur Ermordung von afrikanischen Politikern, zur Berliner Mauer, zu Mandela, zum Ende der Apartheid, bis zur Krise 2008. Ich wollte damit nur ausdrücken, dass es die gleiche Geschichte ist, nur verschiedene Facetten. Diese drei jungen Menschen sind nicht die Protagonisten eines Biopic, vielmehr wollte ich zurückkehren zu den Ursprüngen der Geschichte des Kapitalismus, der noch nicht vorbei ist, sondern uns vielleicht auch in die finale Katastrophe führen kann.
Sie haben dokumentarische Filme ebenso gemacht wie Spielfilme. Wie kam es zu der Entscheidung, diesen Film als reinen Spielfilm zu machen?
Wenn sie meine Arbeiten kennen, dann wissen Sie: alle meine Filme sind in einer Realität verankert. Manchmal drücke ich diese Realität durch dokumentarische Filme aus, manchmal durch Spielfilme. Hier war die Absicht, eine sehr komplexe Geschichte zu erzählen, einen Film, der sich an ein breites Publikum wendet, der aber auch etwas über uns aussagt: wer sind wir, in welchem Land leben wir, in welcher Welt leben wir? Das ist das Kino, das ich machen möchte, kein didaktisches Kino. Ich wollte mit diesem Projekt zurückkehren zu den Ursprüngen von Karl Marx, den jungen Karl Marx, nicht den alten, bärtigen zeigen. Dafür haben wir zahlreiche Drehbuchfassungen benötigt, denn wir haben danach gestrebt, eine höchstmögliche Realität und Authentizität zu erreichen. Wir wollten nicht die klassischen Tricks eines Biopics verwenden, die darin bestehen, dass man beispielsweise historische Figuren erfindet, die es nie gegeben hat, dass man fiktionale Elemente einstreut, dass man zeitlich Dinge verkürzt, dass man emotionale Dinge erfindet. All das wollten wir nicht. Aber das verkompliziert Dinge, weil Du etwas machen musst, was realistisch ist. Wir haben uns in erster Linie auf Briefe gestützt, auf Briefwechsel – wir wollten eine echte menschliche Geschichte erzählen, die aber trotzdem komplex ist.
Sie haben viele Filme über schwarze Protagonisten gedreht, über Lumumba, zuletzt über James Baldwin. Wieweit hat das Denken von Marx für die eine Rolle gespielt?
Das ist schwer zu sagen. Ich weiß, dass Baldwin ein Jahr lang ein Trotzkist war, aber da er jeder Organisation immer kritisch gegenüber stand, hat er das sehr schnell aufgegeben. Was mich selber betrifft, ist es so, dass Baldwin, den ich sehr früh gelesen habe (zu der Zeit, als ich nach Berlin kam) und Marx irgendwie meine zwei intellektuellen Füße waren, die mein Denken geprägt haben. Beide Denker haben mich auf ganz unterschiedliche Weise beeinflusst und haben mir die Instrumente gegeben, wie ich auch meine Welt zu verstehen hatte – aber nicht auf eine statische Art und Weise, sondern ich konnte diese Elemente in allen Etappen meines Lebens wieder benutzen. Und es ist ja auch kein Zufall, dass beide Filme jetzt zur gleichen Zeit herauskommen, in einer Welt, die sich in einem völligen Durcheinander befindet. In der ein amerikanischer Präsident der wissenschaftlich erwiesenen Existenz des Klimawandels seine Meinung entgegensetzt, indem er ihn abstreitet, und beides wird zu Meinungen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Das ist das Absurde. Und in so einer Welt will ich zurück zu den Klassikern, zurück an die Ursprünge, weil wir wirklich in der Welt derzeit eine Situation haben, dass es Desinformationen gibt und dass das Kapital es geschafft hat, sich zu verstecken und es auch geschafft hat, gewisse Realitäten zu verstecken, wie die Ausbeutung des Menschen. Der Gipfel der Absurdität besteht darin, dass große Teile der amerikanischen Arbeiterklasse und der Mittelschicht, denen es finanziell nicht besonders gut geht, einen Millionär gewählt haben, in der Hoffnung, er würde ihr Leben verbessern.
Es gibt am Ende des Films eine turbulente Sitzung, bei der Engels und Marx erst nicht zu Wort kommen sollen, dann aber doch, es fällt das Wort »Coup«. Das hinterließ bei mir den Eindruck, dass es dabei ein Stück weit auch um Machtpolitik geht. Steht dahinter Ihrerseits die Erkenntnis, dass so etwas notwendig ist, um Ideen durchzusetzen oder klingen darin schon spätere Pervertierungen des Marxismus an?
Ich wollte mit dieser Szene zeigen, dass es beide Möglichkeiten gibt: es gibt die Möglichkeit des Entgleitens, des Abweichens, einer falschen, einer schlechten Umsetzung der Analyse, es gibt aber auch den politischen Kampf, und jeder politische Kampf wird mit gewissen Mitteln geführt, wo man sich keine Geschenke macht. Ich finde das auch in Ordnung, solange das transparent bleibt. Aber die zweite Möglichkeit dieser Szene ist es auch, eine gewisse Realität zu zeigen, die nicht vorhersehbar war, etwa dass es sich in der Sowjetunion in eine bestimmte Richtung entwickelte. Eine gewisse Saat war gesät. Mir war es wichtig zu zeigen, dass Fehler immer möglich sind und dass wir verantwortlich sind, dass so etwas eben nicht abgleitet.
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