Voller Leben, klug und sexy – Das Independent-Kino in Frankreich

»Bande de filles« von Céline Sciamma

»Bande de filles« von Céline Sciamma

Serie zur Lage des Independent-Kinos. Teil 4: Frankreich

Filmförderung lähmt die Phantasie? Das war vielleicht immer nur Ideologie. Für Frankreich stimmt es jedenfalls nicht. Da ist in den letzten zwanzig Jahren eine bewundernswerte Vielfalt eigenwilliger Autorenfilme entstanden. Was machen die Franzosen richtig?

Bevor der Titel auf der Leinwand erscheint, könnte man glauben, in einem amerikanischen Film zu sitzen. Footballspieler gehen mit martialischer Inbrunst aufeinander los. Sie tragen unterschiedliche Hautfarben, aber das wäre auch in einem Hollywoodfilm der Fall. Vorerst durchbricht nur eins unsere Sehgewohnheiten: Die Mitglieder der Mannschaften sind weiblich.

Sie triumphieren nach dem Sieg, fallen einander ausgelassen in die Arme. Jetzt erst wird der Filmtitel eingeblendet. Er zeigt uns, dass wir den Auftakt eines französischen Films gesehen ­haben: »Bande de filles« von Céline Sciamma handelt von einer Mädchengang aus der Pariser Banlieue. Die Regisseurin hat zwar einen Blick für die Lebenssphären ihrer Heldinnen, erweckt diese aber vor allem im Körperspiel der Darstellerinnen zu filmischem Leben. Sie kann sich gar nicht sattsehen an ihrer tänzerischen Beweglichkeit und der Innigkeit ihrer freundschaftlichen Umarmungen. Jungs sind vorerst kein entscheidender Bezugspunkt für sie. Der Film feiert einen gestischen, träumerischen Elan, wie es ihn im Kino noch nicht gegeben hat.

»Mustang« (2015). © Weltkino

»Mustang« von der türkischstämmigen Regisseurin Deniz Gamze Ergüven wiederum erzählt kämpferisch von überkommenen Frauenbildern in einer Gesellschaft, die zwischen dem Aufbruch in die Moderne und reaktionären Verharrungskräften zerrissen ist. Ihre jungen Heldinnen rebellieren gegen die Sexualmoral ihrer Heimat an der türkischen Schwarzmeerküste, wo sogar das Zupfen der Augenbrauen verboten ist. Auch hier artikuliert sich eine Weltsicht ganz im Gestischen, in einer entfesselten Beweglichkeit. Mit vier Preisen (als Bester Erstlingsfilm, für das Originaldrehbuch, die Musik und den Schnitt) gehört »Mustang« zu den Siegern der diesjährigen César-Verleihung.

Wie präzise das französische Kino die Binnenspannungen der eigenen Gesellschaft widerzuspiegeln vermag, demonstrierte an diesem Abend der Erfolg von »Fatima«, der drei von vier Nominierungen in Césars verwandeln konnte. Philippe Faucon erzählt von einer Migrantin aus dem Maghreb, die ihre Töchter allein erziehen muss. Er gibt Figuren ein Gesicht, die sonst unsichtbar bleiben. Gegenüber »Bande de filles« und »Mustang« vollzieht er einen Perspektivwechsel, macht sich den Blickwinkel der starken, aber in der französischen Gesellschaft verlorenen Mutter zu eigen. Mit der wachsamen, solidarischen Nähe zu ihren Figuren eröffnen die drei Filme dem Kino Erzählräume, die zuvor verschlossen schienen.

Elan lässt sich fördern

Das französische Kino, so scheint es, braucht keine Quoten, um die Vielfalt abzubilden. Es vertraut auf die Durchsetzungskraft künstlerischer Temperamente und setzt auf seine ständige Erneuerung durch junge Talente. Im Gegensatz zu den USA versteht es sich nicht allein als eine Industrie, die sich alibihaft Prestigeproduktionen gestattet, sondern hat einen selbstverständlichen Rückhalt in der Zivilgesellschaft. Dieser ist staatlich gewollt, wird gefördert und gesteuert. Ermöglicht wurden die Filme auch durch eine neu eingerichtete Quelle von Fördermitteln, den »Fonds images de la diversité«.

Diese Vielfalt kann sich die Kinobranche leisten. Die Zuschauerzahlen steigen fast kontinuierlich von Jahr zu Jahr. In den ersten drei Quartalen 2016 wurden bereits 150,2 Millionen Eintrittskarten verkauft, was einem Zuwachs von etwa 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Der eigene Marktanteil liegt bei 35 Prozent. Die Gründe dafür reichen gut zwei Jahrzehnte zurück.

»Chanson d'Amour« (2006). © Prokino

Zwischen 1995 und 2005 verdoppeln sich die Mittel, die von staatlicher Seite und privaten Finanziers im Filmgeschäft investiert werden. Die Anzahl der Produktionen nimmt um 50 Prozent zu; seit der Nouvelle Vague sind nicht mehr so viele Erstlingsfilme entstanden. Nun haben sich die potenziellen Geldquellen diversifiziert, Produzenten müssen oft mehr als ein Dutzend Partner ins Boot bekommen. Neben der staatlichen Filmförderung profilieren sich private Finanzierungsgesellschaften, sogenannte Soficas. Bezahlsender wie Canal plus machen ihren Einfluss geltend. Die regionale Filmförderung gewinnt stark an Bedeutung, es winken Steuergeschenke aus Belgien, Deutschland und Luxemburg. Produktionsfirmen wie Wild Bunch entwickeln internationale Ambitionen.

Wenige Jahre später verschlechtert sich die Situation. Canal plus droht, sich aus der Finanzierung des Autorenkinos zurückzuziehen. Nun wird das Geld der Fernsehsender vorzugsweise in Projekte mit Stars gesteckt, die eine gute Quote garantieren. Pascale Ferran (Lady Chatterley) macht in ihrer Dankesrede bei der César-Verleihung 2007 auf die drohende Polarisierung aufmerksam. Einige Filmemacher, Produzenten und Verleiher, darunter Ferran, Jacques Audiard, Édouard Weil und Fabienne Vonnier, schließen sich zum »Club der 13« zusammen. Auf eigene Faust fertigen sie einen Bericht über die aktuelle Produktions-, Verleih- und Exportsituation an und entwerfen neue Strategien. Unter dem Titel »Le milieu n'est plus un pont mais une faille« (Die Mitte ist keine Brücke mehr, sondern eine Kluft) erscheint der Bericht als Buch in dem namhaften Verlag Stock; ein Weckruf, der erst langfristig Gehör findet.

Im September gab das Kulturministerium bekannt, dass es 2017 die Filmförderung auf 707 Millionen Euro erhöhen will. Bei einem Treffen von Branchenvertretern wurde überdies eine dirigistische Maßnahme beschlossen, die die Verleihbedingungen für unabhängige Filme verbessern soll. Mittlere und größere Kinos sind verpflichtet, Arthouse-Filme mindestens zwei Wochen im Programm zu halten; in Multiplexen soll die Mehrfachprogrammierung von Blockbustern eingeschränkt werden. In Städten mit weniger als 50 000 Einwohnern soll der Vertrieb unabhängiger Filme erleichtert werden.

Marktführer

Was unabhängiges französisches Kino tatsächlich ist, lässt sich freilich schwer definieren. Seit 120 Jahren wird das Filmgeschäft weitgehend von zwei Konzernen dominiert, Gaumont und Pathé, die heute den Brüdern Nicolas und Jérôme Seydoux gehören. Gaumont pflegt die traditionell publikumswirksamen Genres (Komödie, Kriminalfilm, Action), Pathé orientiert sich stärker am europäischen Markt, ist beispielsweise Koproduzent von Pedro Almodóvar, Stephen Frears und Paolo Sorrentino. Für den einheimischen Markt gab Jérôme Seydoux nach dem Kassenerfolg von »Willkommen bei den Sch'tis« die Direktive aus, sich ganz auf Komödien zu konzentrieren. Beider Kinoketten tragen zur Konsolidierung ihrer Vormachtstellung bei. Zu Beginn der 1970er Jahre wuchs ihnen mit UGC eine starke Konkurrenz im Verleihsektor zu; später kam MK2 hinzu, gegründet von dem Produzenten Marin Karmitz, der ein unverzichtbarer Partner des internationalen Autorenfilms ist.

»Willkomen bei den Sch'tis« (2008). © Prokino

Unabhängig könnte man mithin jede Produktionsfirma nennen, die nicht fest mit diesen Marktführern assoziiert ist. Folgt man dieser Logik, dürfte man Luc Bessons Blockbuster-Schmiede EuropaCorp mit gleichem Recht als Independent bezeichnen wie den Filmemacher Alain Cavalier, der sich seit Ende der 60er Jahre sukzessive aus dem Mainstream zurückgezogen hat. Ein griffigeres und hilfreicheres Muster, den Strömungen im französischen Gegenwartskino beizukommen, wäre es, unabhängiges Kino mit dem Autorenfilm gleichzusetzen. Beide sind miteinander so eng verwandt wie die Begriffspaare Armut und Not oder Wohlstand und Reichtum.

Die Erbengeneration

Die Unübersichtlichkeit seiner Produktionslandschaft hat dem französischen Kino traditionell nicht geschadet. Die enorme Kreativität seines ersten »Goldenen Zeitalters« zu Beginn der Tonfilmära ging einher mit einer bemerkenswerten ökonomischen Instabilität. Damals wurden Produktionsfirmen oft nur für einen einzigen Film gegründet.

Die Nouvelle Vague lernte aus dieser Flexibilität. Die jungen Regisseure verbanden sich entweder mit einflussreichen Produzenten wie Georges de Beauregard und Anatole Dauman oder gründeten, wie Claude Chabrol und François Truffaut, eigene Firmen. Das Unternehmen Les Films du Losange von Eric Rohmer und Barbet Schroeder existiert noch heute und ist beispielsweise Koproduzent der Filme Michael Hanekes. Diesem Muster folgen heutige Filmemacher. Cédric Klapisch und Robert Guédiguian haben eigene Produktionsfirmen, die auch offen stehen für Kollegen (Guédiguians Agat blieb anfangs nicht zuletzt wegen des Erfolgs von Tonie Marshalls »Schöne Venus« im Geschäft). Der Produzent Alain Rocca (»Die Verschwiegene«, »Hass«) versteht sich als Förderer einen neuen Generation und bekennt: »Ich produziere keine Filme, sondern Filmemacher.« Und als der Produzent Édouard Weil mit dem Regisseur Xavier Giannoli (»Chanson d'amour«) die Firma Rectangle gründet, bezieht er die Büros von Truffauts »Les Films du Carosse« – ein Signal, dass er ein bestimmtes Erbe antreten will.

Die Partnerschaft zwischen Regisseuren und Produzenten kennt unterschiedlichste Modelle und Konstellationen. François Ozons erste Filme entstehen bei der Firma Fidelité und wurden wesentlich durch Verkäufe nach Japan finanziert. Pascal Caucheteux' Firma »Why not« produziert Filme von Philippe Garrel, Claude Lanzmann, Jacques Audiard, Ken Loach und vor allem Arnaud Desplechin. Er betreibt ein eigenes Kino in Paris und erprobt 2003 neue Vertriebsformen. ­Desplechins »Léo en jouant dans la ­compagnie des hommes« startet er exklusiv in seinem Kino, wo er zunächst monatelang läuft, um schließlich in anderen Städten gezeigt zu werden.

Nach wie vor operieren kleine Produktionsfirmen in einer fragilen Ökonomie. 2011 entgeht Sylvie Pialats »Les Films du Worso« nur knapp dem Konkurs. Obwohl »Le roi de l'evasion« von Alain Guiraudie in der Branche gut ankommt, hat sie enorme Schwierigkeiten, dessen nächsten Film »Der Fremde am See« zu finanzieren. Erst als sich arte nachträglich beteiligt, kann sie das Team, das während des Drehs unter Tariflohn arbeitet, ausbezahlen. Und erst nach dessen (relativem) Kassenerfolg kann sie auch sich selbst bezahlen. Wie sehr sich Sparsamkeit bewähren kann, demonstrieren hingegen zwei Filme, die dank ihrer frugalen Budgets zu den rentabelsten der letzten 12 Monate wurden: »Der Wert des Menschen« mit Vincent Lindon und die dokumentarische Satire »Merci Patron!« von François Ruffin, die von dem Versuch entlassener Arbeiter handelt, den Chef des Konzerns LVHM, Bernard Arnault, zur Rechenschaft zu ziehen.

Am Scheideweg

Falls es ein unabhängiges französisches Kino gibt, dann wäre Vincent Macaigne sein Gesicht. Auf den ersten Blick macht er nicht viel her mit seinen langen, fettigen, schon ziemlich schütteren Haaren und seiner speckigen Kleidung. Aber seine Stimme ist wunderbar: heiser und doch samtig. Und eine gute Stimme zählt im redseligen französischen Kino.

Sein Starruhm ist noch eine fragile Angelegenheit: Die über 30 Filme, in denen er bisher mitspielte, hatten in Frankreich zusammen weniger als eine Million Zuschauer. In unseren Kinos liefen bisher erst zwei an: In »Eden« von Mia Hansen-LØve hat er eine tragende, in »2 Herbste, 3 Winter« von Sébastien Betbeder eine Hauptrolle. 2013 machte Macaigne in Frankreich Furore, als gleich drei seiner Filme in Cannes liefen. Bei ihrem Kinostart wurden sie gefeiert als Aufbruch eines jungen, vitalen Kinos, das einen frischen Blick auf die Gegenwart und einen anarchischen auf die Politik wirft. Seither widmen ihm Tageszeitungen wie »Libération« ganzseitige Porträts; die New Yorker »Village Voice« begrüßte ihn gar als den neuen Depardieu.

»2 Automes 3 Hivers« (2013). © Déjà-vu Filmverleih

Dahin ist es noch ein weiter Weg. »La Fille du 14 Juillet« von Antonin Peretjako ist eine alberne Satire – jeder französische Präsident wirkt lächerlich, wenn man ihn beim Abnehmen der Parade zum Nationalfeiertag im Zeitraffer filmt. Nach französischer Kritikermeinung knüpft diese Art der Stilisierung indes an die Nouvelle Vague an. Während »La Fille du 14 Juillet« damit nurmehr kokettiert, nimmt »La Bataille de Solférino« von Justine Triet die politische Situation in Frankreich tatsächlich etwas schärfer in den Blick. Macaignes Exfrau ist eine Fernsehjournalistin, die vom zweiten Wahlgang im Mai 2012 berichten soll. Vor dem Sitz der Sozialisten in der Rue Solférino befragt sie Anhänger Hollandes, Demonstranten und Schaulustige. Die wahre Schlacht wird jedoch zwischen den geschiedenen Eheleuten ausgetragen. In »2 Herbste, 3 Winter« formuliert Macaigne die Figur des Mittdreißigers, der mit dem Älterwerden hadert und sich orientierungslos durchs Leben mogelt, weiter aus. Sein darstellerisches Terrain ist das Dazwischen. Er verleiht der Krise ein bohèmehaftes Antlitz. Vielleicht ist genau das seine Stärke: ein Schauspieler zu sein, der eine Generation repräsentiert. Seine Regisseurin Justine Triet geht mittlerweile längst andere Wege: Sie hat mit der Komödie »Victoria« mit Virginie Efira erfolgreich zum Mainstream aufgeschlossen. Aber vielleicht bewahrt sie sich auch dort ihre Unabhängigkeit.

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