Kritik zu Mustang
Mit ihrem Langfilmregiedebüt über das Los einer Gruppe junger Mädchen an der Schwarzmeerküste gelang der türkischen Regisseurin Deniz Gamze Ergüven ein veritabler Festivalhit, für den sie auch mit einer Golden-Globe- und Oscar®-Nominierung geehrt wurde
Eine betörende Leichtigkeit liegt über den ersten Bildern, ein flirrendes Sommergefühl am letzten Schultag, an der Schwelle zur großen Freiheit der Sommerferien. Fünf Mädchen tollen mit Schulkameraden im schäumenden Meerwasser, je eine sitzt auf den Schultern eines Jungen, während sie versuchen, sich gegenseitig zum Abstürzen und Hinfallen zu bringen, sie albern und lachen ausgelassen. Jeder Moment schreit hinaus, wie schön Jugend sein kann, unbeschwert, vergnügt und unschuldig. Da ahnen die Mädchen noch nicht, wie bedroht dieses Glück ist, weil sie nicht irgendwo am Atlantik oder am Mittelmeer leben, sondern am Schwarzen Meer in der Türkei. Als sie nach Hause kommen, werden sie von ihrer aufgebrachten Großmutter vehement zur Rede gestellt, eine nach der anderen, die Älteste zuerst, die anderen drängen sich vor der Tür, um zu hören, um zu verstehen. Ihr wildes, ungestümes Temperament und die Art, wie sich die Mädchen immer wieder wie eine kleine Herde benehmen, hat den Titel des Films inspiriert.
Eine Nachbarin, die mit langem braunem Kleid und Schleier Sittenstrenge und Religionstreue zur Schau trägt, hat das unschuldige Glück am Meer verpetzt, als zotiges Verhalten diffamiert, die elternlosen Mädchen als Huren denunziert. Von einem Tag auf den nächsten wird ihr Zuhause zum Gefängnis und zur »Ehefrauenfabrik«. Statt in die Schule zu gehen, müssen sie zu Hause kochen und nähen lernen, und schon werden die ersten Familien mit heiratswilligen Männern ins Haus geladen, um die blutjungen Mädchen eine nach der anderen zu ehelichen, möglichst schnell, bevor womöglich doch noch etwas passiert. Die Älteste hat Glück, sie ist verliebt, der Junge hält offiziell um ihre Hand an, der für sie bestimmte Mann wird gleich an die Nächste weitergereicht. Doch je enger sich das Netz der Restriktionen um die Mädchen zieht, desto mehr wird ihr widerständiger Freiheitsdrang provoziert. Dabei wird der ganze Film aus der Perspektive der Jüngsten erzählt, Lale, die mit wachsamer Neugier zuschaut und versucht, sich einen Reim auf die Ereignisse zu machen. Aus ihren Schlussfolgerungen erwächst ein erstaunliches Coming-of-Age, fast so als würden sich ihre Batterien immer stärker aufladen, je länger sie die schlechten Erfahrungen ihrer Schwestern wie einen Impfstoff in sich aufnimmt.
Das Besondere ist, wie in diesem Film durch die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven zwei Perspektiven zusammentreffen: einerseits die einer jungen türkischen Frau, die 1978 in Ankara geboren ist und die Restriktionen, denen Frauen in ihrem Land ausgesetzt sind, aus eigener Erfahrung kennt und bis heute wie ein einengendes Korsett spürt, wenn sie zurückkehrt. Und andererseits die einer Filmemacherin, die ihre filmische Sozialisation in Frankreich erlebt hat, in der Heimat der Nouvelle Vague, von Regisseuren wie Jacques Doillon oder François Truffaut, aber auch von Olivier Assayas und den Brüdern Dardenne. Immer wieder fangen die Debütregisseurin und ihr Kameramann David Chizallet das vertraute und sinnliche Miteinander der Mädchen ein, die Art, wie sie ganz unschuldig mit ineinander verschlungenen Armen, Beinen, Körpern in Betten oder auf dem Boden liegen, in glücklichen Momenten, die sie ihrer beklemmenden Situation abtrotzen. Oder wenn zwei von ihnen in einer vergitterten Nische aus weißen Mauern nicht nur in der Sonne, sondern auch in Licht und Leichtigkeit baden. Doch wenn die Jüngste fast beiläufig erwähnt, dass dies das letzte Mal war, dass sie alle fünf zusammen waren, legt sich dieser Satz wie eine düstere Vorahnung über den Film. Sie verbindet sich mit den nächtlichen Besuchen, die der Onkel den Mädchen abstattet, deren Keuschheit er tags mit hohen, bewehrten Mauern und schweren Gittern so rigide bewacht. Doch der unbezähmbare Geist der Freiheit, den Deniz Gamze Ergüven auf so betörende Weise einfängt, ist ihr zufolge typisch für die heutige Generation junger Frauen. Es ist die Ankündigung und das Versprechen eines Umbruchs, den Präsident Erdogan auf lange Sicht nicht wird deckeln können.
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