Fuck you, Hollywood! – US-Independent-Kino heute
»Tangerine L.A.« (2015)
→ Neue Serie Zur Lage des Independent-Kinos. Teil 1: USA
Was ein Independent-Film ist, lässt sich heute nicht mehr so leicht sagen. Muss er billig sein? Verbindet sich mit dem Begriff ein ästhetisches Konzept? Früher wusste man, wie ein amerikanischer Independent-Film auszusehen hatte: so wie Jim Jarmuschs »Stranger Than Paradise«. Dann schalteten sich die Studios ein, erfanden das Label Arthouse und fingen die Rebellen ein: Feelgoodkino
Man muss sich das aktuelle US-Independent-Kino vielleicht als fragiles Ökosystem vorstellen. Viele Faktoren nehmen Einfluss auf das natürliche Gleichgewicht in diesem Biotop, doch die Kräfteverhältnisse haben sich in den vergangenen zehn Jahren deutlich verschoben. Zudem setzen äußere ökonomische Einflüsse den unabhängigen Strukturen innerhalb der Filmindustrie verstärkt zu.
Da sind einerseits die großen Studioproduktionen, deren massive Präsenz selbst die niederen Arthouse-Regionen (Produktionen mit Budgets zwischen zwei und fünf Millionen Dollar) in Bedrängnis bringt. Mittlerweile sind die Starttermine der Blockbuster über das gesamte Jahr verteilt, ihre teuren Marketingkampagnen binden die Aufmerksamkeit des Kinopublikums. Gleichzeitig schwindet die Zahl der Leinwände für kleine unabhängige Produktionen, weil der Arthouse-Markt (vor allem durch die »Indie«-Ableger von Studios wie Focus Film, Fox Searchlight Pictures, Sony Pictures Classics) heute eine nahezu geschlossene Subökonomie darstellt. Für kleinere Filme bleibt kaum noch Platz, zumal die Zahl der in den USA gestarteten Filme seit Jahren zunimmt. Exakte Zahlen sind schwer zu bekommen, aber die »New York Times«, die für sich in Anspruch nimmt, jeden in New York angelaufenen Film zu rezensieren, sprach bereits 2014 von über 900 Filmen.
Talentschuppen oder Durchlauferhitzer? Sundance und Miramax
Die Folge ist ein kurioses Paradox. Mit Regisseurinnen und Regisseuren wie Alex Ross Perry (diesen Monat mit »Queen of Earth« in den deutschen Kinos), Micah Magee (ihr Langfilmdebüt »Petting Zoo« startet ebenfalls im Mai), Kelly Reichardt, Debra Granik, Sean Baker (»Tangerine L.A.«), Matthew Porterfield, Benh Zeitlin, Ava DuVernay, Andrew Bujalski (»Computer Chess«), Cary Fukunaga und Shane Carruth (»Primer«) – um nur die bekannteren Beispiele zu nennen – zeichnet sich das unabhängig produzierende US-Kino heute durch eine noch nie dagewesene stilistische Vielfalt aus. Doch die ökonomischen Rahmenbedingungen werden immer prekärer. Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass eigentlich niemand mehr weiß, was der Begriff »Independent« genau bedeutet. In den sechziger Jahren bezog er sich vor allem auf die Produktions- und Arbeitsbedingungen abseits der großen Studios, beschrieb aber auch eine ästhetische Haltung. Bis in die Achtziger gab es eine klare Linie zwischen Studio- und Independent-Produktionen: John Sayles, Spike Lee, Jim Jarmusch und Gus Van Sant waren typische Independent-Regisseure. Bei den Coen-Brüdern, Susan Seidelman und David Lynch waren die Grenzen hingegen schon nicht mehr so eindeutig zu bestimmen.
Die Konvergenz von sogenanntem Independent-Kino und Hollywood erreichte Anfang der Neunziger einen Höhepunkt, als sich das Sundance Film Festival als Talentschuppen für eine Reihe von Indie-Regisseuren einen Namen machte. Steven Soderbergh, Quentin Tarantino, Richard Linklater, David O. Russell, Paul Thomas Anderson, Darren Aronofsky und Alexander Payne veränderten mit ihren Erstlingswerken die US-Filmindustrie.
Ausschlaggebend für diese Entwicklung waren insbesondere Harvey und Bob Weinstein, die mit Miramax Films den Independent-Film als – kommerzielle – Marke etablierten. Unter ihrer Ägide wurde aus dem zarten Pflänzchen innerhalb weniger Jahre das lukrative Marktsegment »Arthouse-Film«: von Miramax so lange mit Marketingbudgets befeuert, bis auch der unabhängige Film den Gesetzen des Marktes gehorchte.
Doch Filme wie »Der englische Patient« und »Shakespeare in Love«, mit denen sich Miramax, damals bereits eine Division des Disney-Konzerns, als großer Arthouse-Verleih etablierte, ähnelten in ihrer Ästhetik und Erzählhaltung zunehmend teuren Hollywoodproduktionen. Als unmittelbare Folge steckte das US-Independentkino in den nuller Jahren in einer Identitätskrise. Das Sundance Festival hatte seine Vorreiterstellung als Seismograph des unkonventionellen unabhängigen Kinos verloren, und in den Arthouse-Kinoketten dominierten harmlose Feelgood-Komödien wie »Little Miss Sunshine« und »Garden State«. Der Filmjournalist Geoff King prägte die Bezeichnung »Indiewood« für diesen hybriden Kinomarkt.
Aber auch dieser Begriff ist ein Relikt vergangener Tage, weil sich die US-Filmindustrie in den letzten zehn Jahren noch einmal dramatisch verändert hat. Die Sundance-Generation um Tarantino, Aronofsky und Russell ist längst in Hollywood angekommen, während Newcomer wie Ryan Coogler (»Fruitvale Station«), Colin Trevorrow (»Safety Not Guaranteed«) oder Joe und Anthony Russo (»Ich, Du und der Andere«) nach gefeierten Sundance-Debüts gleich in die A-Liga aufgerückt sind. Coogler drehte zuletzt das Rocky-Reboot, Trevorrow »Jurassic World«, und die Russos inszenierten die »Captain America«-Sequels. Wie schwierig eine Definition des Independent-Kinos heute ist, zeigt schon ein Blick auf die Preisträger der letzten Independent Spirit Awards, die seit jeher regelmäßig mit den oscarnominierten Filmen ihrer Jahrgänge identisch sind. In diesem Jahr gewann »Spotlight«, in den Jahren davor waren es »Birdman«, »12 Years a Slave«, »Silver Linings« oder »Black Swan«. Die Regisseure stammen überwiegend aus dem Arthouse-Kino der neunziger Jahre.
Glücklicherweise differenziert sich die Szene jetzt wieder aus
Tatsächlich geht im US-Kino die Schere zwischen großen und kleinen Filmen immer weiter auseinander. Noah Baumbach und Richard Linklater gehören zu den letzten Regisseuren, die als echte Independents in Hollywood Fuß gefasst haben (Baumbachs »Gefühlt Mitte Zwanzig« wurde von Scott Rudin produziert, Linklaters »Boyhood« vom Independent Film Channel).
Unterhalb dieser Marktschwelle hat sich das Feld allerdings immer weiter ausdifferenziert. Um in der Sprache der Botanik zu bleiben: Der Wildwuchs im US-Independent-Kino treibt seit einigen Jahren die schönsten Blüten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich das Sundance Festival inzwischen wieder auf seine Herkunft besinnt.
Auch das Forum der Berlinale fungierte in den vergangenen Jahren international als wichtiges Schaufenster für den US-amerikanischen Independent-Film. Das Forum begleitete früh die Mumblecore-Bewegung (speziell die Filme von Andrew Bujalski), das bislang letzte Indie-Phänomen im US-Kino. Vor zwei Jahren debütierte in Berlin etwa die bis dahin völlig unbekannte Auteurin Josephine Decker mit gleich zwei Filmen (»Butter on the Latch, Thou Wast Mild and Lovely«), die mit ihrer eigenwilligen Bildsprache für Aufsehen sorgten. Auch Matthew Porterfield (»I Used to Be Darker«) ist ein Stammgast im Forum, wo im vergangenen Jahr ebenfalls Alex Ross Perrys dritter Film Queen of Earth seine Weltpremiere feierte.
Ross Perry gilt als neuer Shootingstar des unabhängigen US-Kinos. Im Gegensatz zu seinen eher dialoglastigen Komödien »The Color Wheel« und »Listen up Philip«, die auf schwarzen Humor setzten, beweist Perry mit »Queen of Earth«, dass er auch ein visueller Erzähler ist. Der Film handelt von zwei ungleichen Freundinnen in unterschiedlichen Lebenssituationen, die nach Jahren ohne engeren Kontakt ein gemeinsames Wochenende in einem Landhaus verbringen. Der einsame See, verdrängte Konflikte zwischen den Frauen und das unscharfe Sommerlicht im Wald erzeugen eine latente Atmosphäre der Verstörung, der keine aufdringlichen psychologischen Erklärungsmuster entgegenwirken. »Queen of Earth« bleibt bis zum Schluss opak und rätselhaft. Kameramann Sean Price Williams fängt die Hauptdarstellerinnen Elisabeth Moss (»Mad Men«) und Katherine Waterston (»Inherent Vice«) in traumhaft somnambulen, fast unwirklichen Bildern ein, die gelegentlich an Robert Altmans Meisterwerk »Drei Frauen« erinnern. Eine ästhetische Haltung beweist Ross Perry auch in seiner Arbeitsweise: Als einer der letzten Independent-Filmer leistet er es sich, noch auf 35 mm zu drehen.
Billig ist gut. Teuer auch. Die mittleren Filme sind das Problem
Am anderen Ende des ästhetischen Spektrums befindet sich mit Sean Baker ein weiterer Filmemacher, der im vergangenen Jahr für Furore sorgte. Seinen Film »Tangerine L.A.«, der sich 2015 auch auf der Shortlist für den Independent Spirit Award befand, drehte er komplett auf einem Smartphone, was perfekt zur hochtourigen Dynamik der Geschichte passt, die den transsexuellen Prostituierten Sin-Dee Rella und Alexandra auf einer irrwitzigen Odyssee durch die Stricherszene von Los Angeles folgt. Das Mobiltelefon erweist sich dabei als aufregendes, jedoch nie selbstzweckhaftes Stilmittel. Los Angeles wirkt im stilisierten kalifornischen Sonnenlicht geradezu artifiziell – ein schöner Kontrast zum dokumentarischen und gleichzeitig empathischen Gestus, mit dem Baker das Transsexuellen- und Stricher-Milieu schildert. Baker, der in seinem letzten Film »Starlet« von der Freundschaft zwischen einer jungen Pornodarstellerin und einer rüstigen Seniorin erzählte, erweist sich mit »Tangerine L.A.« erneut als sozialer Independent-Filmer, der einen ehrlichen, fast liebevollen Blick auf Subkulturen richtet, die im US-Kino kaum mehr vorkommen.
Produziert wurde Bakers Film von Mark und Jay Duplass, die seit ihren Mumblecore-Lehrjahren (»The Puffy Chair«) einen interessanten Karriereweg zurückgelegt haben. Inzwischen haben die Brüder mit »Cyrus« und »Jeff, der noch zu Hause lebt« nicht nur starbesetzten Hollywoodkomödien (etwa mit John C. Reilly, Jonah Hill, Marisa Tomei, Catherine Keener, Jason Segel, Ed Helms) ein wenig Mumblecore-Sensibilität eingeflößt. Sie sind auch Showrunner der erfolgreichen HBO-Serie »Togetherness« und treten als Produzenten (unter anderem Colin Trevorrows »Safety Not Guaranteed«) in Erscheinung. Mark und Jay Duplass haben sich in Hollywood eine Nische geschaffen, sehen die Entwicklung der US-Filmbranche aber dennoch kritisch. In einem Interview mit dem »Hollywood Reporter« verglich Mark Duplass vor zwei Jahren den Zustand der US-Kinoindustrie mit den »Reaganomics« in den achtziger Jahren. Der Mittelbau sei komplett verschwunden. Es gibt nur noch teure Filme, die immer teurer werden, oder billige Filme, die immer billiger produziert werden müssen, um überhaupt noch lukrativ zu sein.
Für viele dieser Filme stellt das Internet bereits heute eine wichtige Vertriebsplattform dar. Filme wie »Results« von Andrew Bujalski (mit Stars wie Guy Pearce und Cobie Smulders) oder »Queen of Earth« haben nur noch Alibi-Kinostarts, um ein wenig Presse für die Video-on-Demand-Veröffentlichung zu generieren. (Während Kritiken die Performance der Blockbuster an den Kinokassen kaum noch beeinflussen, sind die kleinen Filme mehr denn je von guter Presse abhängig.) Aber auch hier sind die Umsatzaussichten eher bescheiden. Zwar halten die VoD-Anbieter sich mit konkreten Zahlen zurück, aber es wird geschätzt, dass sich die Gewinne bei kleinen Filmen momentan noch im mittleren fünfstelligen Bereich bewegen. Selbst bei einem Budget von drei Millionen Dollar ist der Breakeven so kaum zu schaffen. Auch das ist eine Konsequenz des wachsenden Angebots an Independent-Filmen, was die »New York«-Times-Kritikerin Manohla Dargis vor zwei Jahren zu der Forderung veranlasste, weniger Filme zu produzieren, die sich gegenseitig das ohnehin schon schwindende Publikum wegnehmen. Eine Qualitätssteigerung wäre ihrer Meinung nach ein weiterer Nebeneffekt. Von Dargis stammt übrigens auch das Bild vom Ökosystem.
Unverwechselbare Schauplätze
Dargis’ Analyse zog damals Kritik auf sich, und ein wenig muss man ihren Kritikern sogar zustimmen, denn der Wildwuchs des Independent-Kinos im Schatten eines saturierten Arthouse-Marktes hat tatsächlich eine hochspannende Filmszene mit sehr unterschiedlichen regionalen Einschlägen hervorgebracht. Die aktuelle Independent-Szene besitzt eine stärkere lokale Identität als die vorangegangener Generationen. Matthew Porterfield hat mit seinen drei Filmen Baltimore auf die Landkarte des unabhängigen Kinos gesetzt. Porterfields »Putty Hill« und »I Used to Be Darker« sind aktuell wohl die besten Beispiele dafür, wie das Kino finanzielle Limitierungen überkommt und diese mit einem genauen Blick für die soziale Funktion von Orten und Milieus kompensiert. Ähnliches ist Andrew Bujalski in Austin gelungen – wobei er mit seinem letzten Film »Results« nach Houston gezogen ist. David Zellner (»Kid-Thing«) operiert ebenfalls von Austin aus, während Kelly Reichardt (»Old Joy«, »Wendy und Lucy«) in ihren Filmen immer wieder ein schönes Gespür für die Ökologie und die reiche Natur der amerikanischen Nordwestküste in und um Portland zeigt. Wenn man dann noch Filme wie Debra Graniks »Winter’s Bone« (die Ozark Mountains in Missouri) und Benh Zeitlins »Beasts of the Southern Wild« (ein mythisch aufgeladenes Louisiana) hinzuzieht, kann man konstatieren, dass das US-Independent-Kino heute auch in regionaler Hinsicht so vielfältig ist wie nie zuvor.
Auch Indies müssen vermarktet werden
Bei aller Euphorie über die gegenwärtige Qualität des US-Independent-Kinos sollte jedoch nicht übersehen werden, dass einige dieser Filme inzwischen von ausländischen Geldgebern abhängig sind. Kelly Reichardts Filme werden zu einem nicht unbeträchtlichen Teil mit Geld aus Brasilien finanziert, Matthew Porterfield kündigte im vergangenen Jahr an, dass sein nächster Film voraussichtlich in Deutschland kofinanziert wird.
Und für drei der ungewöhnlichsten US-Independent-Filme der vergangenen Jahre zeichnet die irische Produktionsfirma Element Pictures verantwortlich. Das tragikomische Musikerdrama »Frank«, der Entführungsthriller »Raum« (für den Hauptdarstellerin Brie Larson gerade mit dem Oscar ausgezeichnet wurde) sowie »The Lobster«, das US-Debüt von Yorgos Lanthimos mit Colin Farrell und Rachel Weisz, sind jüngste Beispiele für eine Entwicklung, die sich allmählich auch bei großen Studioproduktionen abzeichnet. Die Geschäftsmodelle in der US-Filmbranche sind – im Großen (selbst verschuldet) wie im Kleinen (als Kollateralschaden) – inzwischen so riskant, dass zukünftig immer öfter ausländisches Venture-Kapital benötigt wird. An dieser Situation werden vermutlich auch neue Produzenten wie Hulu, Netflix oder Amazon, die Spike Lees letzten Film »Chi-raq« exklusiv vertrieben, nichts ändern. Um die Qualität des unabhängigen Kinos muss sich die US-Filmbranche in naher Zukunft also weniger Sorgen machen als um zeitgemäßere Vertriebswege.
→ »Queen of Earth« startet am 5. Mai, »Petting Zoo«: Start 19. Mai., »Tangerine L.A.« läuft am 7. Juli an
Kommentare
Wie schaut's eigentlich in D aus?
"Fuck You, Hollywood" ist ja schon mal ein lobenswerter Ansatz; diese auf Kommerz ausgerichten Blockbuster sind ja kaum an Ödnis zu überbieten....
Dann lieber Filme wie Boyhood, Petting Zoo oder Raum (by the way, ist das überhaupt eine US-Produktion? Ich dachte Irland/Kanda?).
Aktuell läuft ein deutscher Independent-Film, der nicht nur über Crowdfunding finanziert wurde, sondern auch in "Eigenregie" in die Kino gebracht wird (ohne "professionellen" Filmverleih): Der Schwarze Nazi von der Filmgruppe Cinemabstruso in Leipzig. Wäre doch ein interessantes Thema: Die Lage des Independent-Kinos in Deutschland.
http://www.derschwarzenazi.de/
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