Kino der stilvollen Ermattung – Das Independent-Kino in Italien
»Che strano chiamarsi Federico« (2013) Foto: Cristina Di Paolo Antonio
Serie zur Lage des Independent-Kinos. Teil 3: Italien
Ganz Italien lacht über leichtverdauliche Kassenhits wie »Der Vollposten«. Ganz Italien? Es gibt noch ein paar Inseln, meint Georg Seeßlen, auf denen unabhängige Gewächse gedeihen
Independente? Di cosa? Was ein Independent-Film ist, lässt sich in Italien noch weniger genau sagen als anderswo. Unabhängig wovon? Unabhängig von den krakenhaften Produktions- und Verleihstrukturen, die immer noch mit dem Imperium der Familie Berlusconi verbunden sind? Unabhängig vom Fernsehen, das mit dem französischen Canal+ und, vor allem nach der jüngsten Reform des Fördergesetzes, dem Sender RAI beinahe so wichtige Produktionspartner stellt wie in Deutschland? Unabhängig von der staatlichen Filmförderung, die in den letzten Jahren zwar durchaus Erfreuliches für Quantität und Qualität der italienischen Filmproduktion getan hat – einschließlich eines deutsch-italienischen Development Funds, der 2014 gemeinsam von der deutschen Filmförderungsanstalt und dem italienischen Ministerium für Kultur und Tourismus gegründet wurde –, aber wohl am wenigsten fördert, was man gemeinhin unter »Independent Movies« versteht? Unabhängig gar von einem Publikumsgeschmack, der im vergangenen Jahrzehnt maßgeblich durch Fernsehen und Multiplexkinos geprägt wurde? Wollte man alle diese Kriterien anwenden, so müsste man in Italien vom Independent-Film als etwas reden, das quasi im Verborgenen lebt: Ein nahezu unsichtbares Kino, das, wenn es Glück hat, einmal in Nanni Morettis Cinema Sacher in Rom auftaucht. Man wird den Begriff also eher weiter fassen: als eine Geste inmitten einer Kinokultur der Abhängigkeiten.
Cinepanettone
Es gibt ein sehr erfolgreiches Kino in Italien, diesseits von Superhits wie »Quo vado? – Der Vollposten«, deren Erfolg, wie etwa in Deutschland der von »Fack ju Göhte« oder in Frankreich von »Willkommen bei den Sch'tis«, mit allem Möglichen zu tun hat, aber gewiss nichts mit sozialem Realismus und schon gar nichts mit cineastischen Qualitäten. Dieses Kino, in der Mehrzahl lockere Episodenkomödien, wird cinepanettone genannt, in Anlehnung an eine einstige Mailänder Kuchenspezialität, die es mittlerweile in jedem Supermarkt des Landes in rauen Mengen zu niedrigen Preisen und in beklagenswerter Qualität gibt. Dieses Kino ist pappsüß, macht schnell satt und hinterlässt keine Spuren. Das Cinepanettone feiert die Italianità, greift hier und da durchaus soziale Konflikte auf – etwa den Umbau des Arbeitsmarktes oder die allfällige Korruption –, nur um sie dann nach den Regeln von Sitcom und Soap-Opera wegzufegen, und es stützt sich gerne auf Darsteller wie das Komikertrio Aldo, Giovanni und Giacomo, die auch außerhalb des Films bekannt sind.
Das Cinepanettone ist einerseits so attraktiv, dass es gelegentlich Filmemacher und Schauspieler anzieht, die ansonsten lieber Kritischeres machen würden, aber es ist auf der anderen Seite so italienisch, dass seine Exportchancen bereits an der Grenze zum Tessin drastisch sinken. Die Hoffnung ist stets, dass das Cinepanettone das Publikum für andere einheimische Produktionen empfänglicher macht. So könnte man etwa den zweiterfolgreichsten italienischen Film des letzten Jahres, »Perfetti sconosciuti« von Paolo Genovese, als Grenzfall zum Cinepanettone ansehen. Genauer ist hier schon der Blick – gebündelt in der Situation eines gemeinsamen Abendessens – auf den Zerfall von Mittelstandsexistenzen in der postberlusconischen Gesellschaft.
Cinema DOC
Das genaue Gegenbild zum Cinepanettone ist eine Form des oft leicht überproduzierten Qualitätskinos, benannt nach dem Gütesiegel auf Weinflaschen, das auf Festivals präsent ist, das von der Kritik gefeiert und vom Publikum, wenn es hoch kommt, mit wohlwollender Gleichgültigkeit behandelt wird. Der Grundton dieses Qualitätskinos ist erlesene Melancholie, und immer wieder erkennt man den verzweifelten Versuch, an die großen Zeiten des italienischen Autorenkinos und die Meisterwerke des Neorealismus anzuknüpfen. Eine gewisse Unabhängigkeit entsteht hier durch die auratischen Namen. Da sind auf der einen Seite die großen Alten, die längst nicht mehr die Bedingungen vorfinden, unter denen sie einst ihre Beiträge zum Weltkino vorlegen konnten: Bernardo Bertolucci, der ein enigmatisches Kammerspiel in einem geschichtsträchtigen Kellerloch in Rom dreht (»Io e te«, Ich und Du, 2013), die Gebrüder Taviani, die ein Shakespeare-Stück von Insassen eines Gefängnisses spielen lassen (»Cesare deve morire«, Cäsar muss sterben, Gewinner der Berlinale 2012); Ermanno Olmi, der zu einer Parabel aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt (»Torneranno i prati«, Die Wiesen werden blühen, 2014), Ettore Scola, der noch einmal von Fellini träumt (»Che strano chiamarsi Federico«, Federico – Scola erzählt Fellini, 2013). All diese Filme sind künstlerisch wirklich unabhängig, sie haben allerdings auch nur noch wenig mit der Geschichte des italienischen Kinos zu tun.
In dessen Zentrum stehen die großen Namen der nächsten Generation. Auch diese Regisseure sind mittlerweile vor allem damit beschäftigt, in der Vergangenheit nach den Wurzeln des italienischen Übels zu suchen. Gabriel Salvatores etwa tauchte schon früh, in »Io non ho paura« (Ich habe keine Angst, 2003), der Verfilmung eines Buches von Niccolò Ammaniti (der auch das Drehbuch schrieb), in eine Mystery-Kindergeschichte von eigenem Zauber; sie spielt in den anni di piomba, den 70er Jahren. In die kehrt auch Marco Tullio Giordana mit »Romanzo di una strage« (2012) zurück, einer etwas verrätselten Rekonstruktion des Bombenanschlags in Mailand 1969 und der Versuche, die Hintergründe aufzudecken, die den Kommissar Luigi Calabresi das Leben kosteten. Der Blick geht zurück in »Latin Lover« (2014) von Cristina Comencini, wo die familiäre Gedenkfeier für einen gestorbenen Schauspieler nicht nur in alle Welt versprengte Menschen noch einmal zusammenbringt, sondern auch Reminiszenzen an die große Zeit des italienischen Films ermöglicht.
Postberlusconische Ratlosigkeit
Dass der Berlusconismo light in der italienischen Mainstream-Produktion noch so verbreitet ist, dieses Hinweglachen und Hinwegfeiern und das Überziehen von allem mit einer Sauce aus Obszönitäten und Regression hat auch damit zu tun, dass der reale Einfluss der Berlusconi-Familie immer noch enorm ist. Über die Produktionsfirma Taodue und den Verleih Medusa, die zum Mediaset-Unternehmen Berlusconis gehören, nimmt sie erheblichen Einfluss auf die Produktion und den Vertrieb. Auch das applaudierte Kernstück der neuen Melancholie, »La grande bellezza« (Die große Schönheit, 2013, Paolo Sorrentino), wird hier vertrieben, und nicht einmal Roberto Benigni will es sich leisten, auf die Zusammenarbeit mit Berlusconi-Firmen zu verzichten, die durch ihre Präsenz in elektronischen Medien und im Printsektor weiterhin Einfluss auf Kritik und Rezeption nehmen.
Man kann es als ein Kino der postberlusconischen Ratlosigkeit bezeichnen, in dem der politische und kulturelle Stillstand als ebenso fatal wie tröstlich erscheint. So entsteht als weiterer Gegenpol ein Kino der stilvollen Ermüdung, voll Nostalgie und Sarkasmus. Da geht es zum Beispiel um alte Männer, die einen letzten Blick auf ein Leben werfen, eine mondäne Italianità. Tony Servillo in »La grande bellezza« ist die mehr oder weniger ideale Besetzung dafür. In »Viva la libertà« (Es lebe die Freiheit, 2014) von Roberto Andò ist er, amüsanter, ein typischer, nun ermatteter Politiker der letzten Republik und sein springteufeliges Double, das sich einen Spaß daraus macht, Politik und Familie durcheinanderzubringen. Doch bevor er sich über die Konsequenzen einer solchen anarchopopulistischen Machtübernahme Gedanken machen müsste, hört der Film auf, so, als wäre auch seine eigene Erzählkraft ermattet.
Auch Nanni Moretti konnte zuletzt kaum von etwas anderem erzählen als von der Unmöglichkeit, konsistent die politische Wirklichkeit des Landes abzubilden und dabei künstlerisch wahrhaftig zu bleiben. Wenn einem im Cinepanettone die hellen Farben auf die Nerven gehen, so ist es im Kino der Schwermut das gedeckte Innenlicht, das stets auf Relikte vergangener Größe fällt. Selbst dort, wo man noch ein Aufbegehren spürt, scheint die Trauer zu überwiegen. Das Cinepanettone ist das Kino der hilf- und mutlosen Opposition.
Cinemacrisi
Die wichtigsten Themen eines widerständigen und unruhigen jungen Kinos, das es trotz allem gibt, sind rasch benannt: nach wie vor die Mafia, das organisierte Verbrechen und die Korruption, das Elend von Arbeitslosigkeit und Prekariat, Migration und Flucht, die Erosion der Linken, die Gewalt und Trostlosigkeit in den Vororten. Filme wie »Balkanica LTD« von Daniele Scarpi (2013) oder »Hip Hop Hassid« von Francesca Pagani (2011) reagieren auf die Heftigkeit der Zusammenstöße, im Schlechten, manchmal aber auch im Guten. So entstehen immer wieder auch Filme, die aus der sozialen Katastrophe den Weg von Widerstand und Solidarität weisen: »Grazia di dio« (Ein neues Leben, 2014) von Edoardo Winspeare (2014) zeigt den Überlebenskampf einer Familie in Salento, die nach dem Bankrott der kleinen Textilfabrik zu zerbrechen droht. Dann aber findet man gleichsam nach und nach zu den bäuerlichen Wurzeln zurück, zur Arbeit auf dem Feld und zum präkapitalistischen Tauschgeschäft. Das ist in seiner naiven Empathie authentisch und zweifellos als Metapher einer Befreiung des Landes aus dem Würgegriff des Finanzkapitalismus zu begreifen. Wie praktikabel (und wie reaktionär) dieser Weg ist, diese Frage stellt sich nicht im Angesicht der neu erblühenden Landschaft von Gottes Gnaden.
Gelegentlich gibt es im italienischen Independent-Film aber auch noch veritable Zornausbrüche wie etwa in der wahrhaft bösen Satire »Draquila – L' Italia che trema« (2010), ein Film der politischen Kabarettistin Sabina Guzzanti, der die Vorgänge nach der Erbebenkatastrophe von L’Aquila 2009, das Ineinander von Bürokratie, Unfähigkeit, Korruption und Politik so direkt aufgreift, wie es im italienischen Film eher unüblich ist. Prompt verkündete der damalige italienische Kulturminister Sandro Bondi in Cannes seinen Boykott, weil er den Draquila als antiitalienische Propaganda begriff. Da er dieses Verdikt abgab, bevor der Film überhaupt zu sehen war, behauptete er, er habe ihn in einer privaten Vorführung begutachten können. Später musste er zugeben, dass dies eine faustdicke Lüge war. So viel zur italienischen Kulturpolitik dieser Jahre, die dieser enge Vertraute Berlusconis bis 2013 maßgeblich bestimmte.
Ähnlich kontrovers wirkte allenfalls noch »Belluscone. Una storia Siciliana« (Belluscone – Warum die Italiener Berlusconi lieben, 2014) von Franco Maresco. In der Geschichte des Rekonstruktionsversuches eines Films, der das Verhältnis von Silvio Berlusconi und der sizilianischen Mafia untersuchen sollte und der nie zustande kommen konnte, wird deutlich, wie wenig Italien mit seiner jüngeren Vergangenheit »fertig« ist. Guzzanti wie Maresco sind so etwas wie Helden des politischen Independent-Kinos in Italien, von den einen verehrt, von den anderen gehasst. Und so soll es auch sein.
Auch das Independent Cinema kommt nicht ohne Schauspieler aus, die einen gewissen Grad an Bekanntheit und Identifikationswert aufweisen. Für das italienische Kino jenseits des Cinepanettone erfüllt diese Aufgabe perfekt Valerio Mastandrea, der Verkörperer des Prekariats schlechthin, der es in einer Menge von Filmen fertigbringt, in einem immer noch größeren Desaster zu enden, als er schon am Anfang steckte. Mastandrea verbindet Filme sehr verschiedener Genres und Produktionsklassen miteinander. Er ist das authentische Gesicht und zugleich der kritische Motor des Krisenkinos, das ansonsten nicht unbedingt viele Elemente von Zusammenhalt und Kontinuität aufweist. In einer Reihe von Filmen geht er, ohne die übliche Larmoyanz und ohne komische Verachtung, den Weg nach unten in der italienischen Krisengesellschaft und schafft es dabei, Sympathie, Mitleid, Distanz und Erkenntnis in einer Balance zu halten.
Man könnte wohl sagen: Valerio Mastandrea ist der Protagonist einer fortlaufenden Chronik des sozialen Niedergangs, die mit dem fast schon programmatischen Film »Tutti giù per terra« (Blei an den Flügeln, 1997) von Davide Ferrario beginnt und über Paolo Virzis »La prima cosa bella« (2010) – die Geschichte eines gescheiterten Professors, der mit dem Zusammenbruch seines Familienromans konfrontiert ist – bis zu »Gli equilibristi« (2012) von Ivano De Matteo reicht; da ist er einer von vielen, für die eine familiäre zugleich eine soziale Katastrophe ist. »Scheidung, das ist was für die Reichen«, muss er erkennen, als er den Halt verliert.
Mastandrea verkörpert in diesen Krisengeschichten nicht nur das Leid des sozialen Abstiegs, sondern auch den Trotz dagegen. Ein Happy End findet man eher selten in seinen Filmen, und doch vermittelt sich immer auch ein Widerstand gegen das Gebrochenwerden. Aber auch ein Filmexperiment wie »La mia classe« (2013) von Daniele Gaglianone wäre wohl ohne Mastandreas Präsenz – als einziger Berufsschauspieler unter Laien – nicht denkbar. Der Film liefert den Rahmen für eine Erzählung von Flüchtlingen über ihre Schicksale, die sie nach Italien und hier an den Rand der Gesellschaft verschlugen.
Aggressive Energien
Man könnte die italienischen Independent-Filme vielleicht auch in »klaustrophobe« und »agoraphobe« einteilen; die Angst, aus der Heimat ausgestoßen zu werden und in der Fremde verloren zu gehen, steht direkt neben der Angst, in immer kleineren Partien der Heimat, bis hin zum römischen Kellerloch, eingeschlossen zu werden. In diesen paranoiden Grundstimmungen spiegeln sich die soziale Situation ebenso wie die nationale Identifikation, die zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitskomplexen pendelt. Man ist stets unzufrieden und zugleich sträubt sich alles gegen Veränderung; man hasst die klientelistischen Politiker und wählt dann doch wieder die schlimmsten von ihnen; man redet unentwegt von Reformen und weiß noch jede zu verhindern, zugleich aber will man stets möglichst viel vom Erbe (insbesondere vom kulturellen) bewahren und lässt es doch für den geringsten ökonomischen Vorteil verkommen. Man will sich umeinander kümmern und verfällt doch wieder in soziale Gleichgültigkeit. So ist es eine Aufgabe des Kinos, dort hinzusehen, wo sich die alltägliche und mediale Aufmerksamkeit ansonsten verflüchtigt.
Das schließt nicht zuletzt Gewalt und Drogen ein. Das erste kommt exzessiv etwa in »L'odore della notte« (1998) von Claudio Caligari zum Ausdruck, das zweite in einer sehr italienischen Breaking-Bad-Variante: »Smetto quando voglio« (Ich kann jederzeit aussteigen, 2014) von Sydney Sibilia. Das Erschreckendste freilich sind die aggressiven Energien, die unter der noch bürgerlichen Oberfläche lauern. Davon erzählt etwa der Film »I nostri ragazzi« (Unsere Kinder, 2014) von Ivano De Matteo. Zwei gut situierte Brüder treffen sich regelmäßig zusammen mit ihren Familien. Die beiden sind sehr unterschiedlich: Kinderchirurg der eine, Rechtsanwalt der andere, Altruist und Zyniker, wenn man so will. Aber die Kinder dieser Familien, Michele und Benny, scheinen sich umso besser zu verstehen. Im Fernsehen sind die Bilder einer Überwachungskamera zu sehen: Zwei Jugendliche, die Michele und Benny zu gleichen scheinen, prügeln auf eine Obdachlose ein. Wie sich die Familien verhalten in einer solchen Situation, zwischen Wahrheitssuche und Vertuschung, das ist eine Frage, die gleichsam durch das Experiment dieses Films an die Gesellschaft weitergereicht wird. Der Erfolg von »I nostri ragazzi« in Italien wie im Ausland – ein Hollywood-Remake ist in Planung – macht deutlich, wie willkürlich oft die Grenze zwischen Independent- und Mainstream-Film gezogen wird.
Als Independent bezeichnet man mittlerweile einfach Filme, die ohne ein sehr großes Budget auskommen und deren Autoren eine entschlossen kritische Einstellung zu ihren Sujets haben. Das lässt sich wohl auch von »La terra dei santi« (Das Land der Heiligen, 2015) von Fernando Muraca sagen, der eine Mafiageschichte aus der Sicht der Frauen erzählt, beinahe ein Lehrstück über eine Staatsanwältin, der es gelingt, den Frauen im Machosystem die Augen über ihre Mitschuld zu öffnen. Die Haltung solcher Filme ist eher distanziert; sie haben kaum noch etwas Heimatliches an sich. Man sieht, möchte man sagen, beinahe einem Blick beim Erkalten zu. Genau anders herum entfaltet sich der Blick in italienischen Filmen, wenn es um das Fremde geht, das zum Teil der künftigen Heimat werden soll.
Gianfranco Rosis Dokumentation Fuocoammare (Seefeuer, Goldener Bär der Berlinale 2016, Kritik im letzten Heft) über die Lage der Flüchtlinge auf Lampedusa kann auf Kommentar und Agitation ganz verzichten, er verkörpert die cineastische Grundweisheit: Man muss nur genau hinsehen. Diese Strategie des genauen Hinsehens verfolgt Rosi auch in »Sacro GRA« (Das andere Rom, 2013), der das Leben entlang der Ringautobahn um Rom schildert, eine Reise durch soziale Sphären, die normalerweise unsichtbar bleiben. Gabriele Salvatores Projekt »Italy in One Day« versucht, ähnlich wie »The World in One Day« oder Sönke Wortmanns »Deutschland: Dein Selbstporträt«, die Autorenschaft auf ein gesellschaftliches Kollektiv zu verteilen. Salvatores wählt dafür ein fast strukturelles Montieren: ein Tag in Italien als italienischer Tag.
Kino der Unbehaustheit
Das Cinepanettone mag an einer rührselig-komischen italienischen Identität festhalten. Es gibt aber auch das italienische Kino als Kino der Entwurzelung. »Io sto con la sposa« (An der Seite der Braut, 2014) ist die Geschichte einer Flucht durch Europa: Fünf Menschen suchen einen Weg von Italien über Frankreich, Deutschland, Dänemark nach Schweden. Die gespielte Dokumentation wurde zum Teil durch Crowdfunding finanziert. Allein im Jahr 2015 kamen zehn längere Filme auf diese Weise zustande, darunter das nomadische Projekt »Lo sgu ardo italiano« (2013), eine Animation von Sandro di Rosario, der nach eigenem Bekunden den Zorn über den Zustand seines Landes mit der Erinnerung an seine Schönheit verbindet, und »Influx« (2016, Luca Vullo) über italienische Immigranten in London. Patrizio Gioffredi und das Kollektiv »John Schnellinberger« gehen für die Komödie »Sogni di gloria« (2014) einen anderen Weg: Als einer der vielen No-Budget-Filme, die weder eine landesweite Verleihauswertung noch ein Echo in der Mainstream-Presse erwarten dürfen, wird auf Selbstvermarktung und eine regionale Szene (hier von Prato) gesetzt. Solche No-Budget-Filme beschreiben die Milieus, denen sie entstammen, so genau und radikal, wie es kein gewöhnlicher Arthouse-Film kann. Aber genau das bildet natürlich auch wieder ihre Begrenzung.
Wann, wenn nicht jetzt, wäre Zeit für ein Kino, das den humanistischen Gestus und die Parteilichkeit des Neorealismus wieder aufnimmt? Wann, wenn nicht jetzt, wäre ein Anknüpfen an das cinema di denuncio, das Kino der sozialen Anklage aus den 60er und 70er Jahren, gefragt? Unglücklicherweise lässt sich auch in der Filmgeschichte nichts wiederholen, es sei denn als Missverständnis. Dieses Missverständnis steckt auch in Filmen, die zwischen gut und gut gemeint stecken bleiben. Paolo Virzis Versuch, in »Il capitale umano« (Die süße Gier, 2013), die Protagonisten des hemmungslosen Neoliberalismus zu attackieren, verkennt vielleicht, dass zu einem speziellen Kino nicht nur ein Stil und eine narrative Konzeption gehören, sondern auch eine soziale Geste. Den Humanismus, den der Neorealismus im Kino vertrat, gibt es aber nicht mehr, sodass Behauptung bleiben muss, wofür es außerhalb des Kinos keine soziale Bewegung gibt. »Il capitale umano« erinnert so sehr an die bösen Bürgerdramen von Claude Chabrol wie an das cinema di denuncia. Valeria Bruni-Tedeschi schleudert ihrem Mann, einem Börsenhai, entgehen: »Ihr habt auf den Niedergang des Landes gewettet, und ihr habt gewonnen.« Und der grinst: »Du meinst: Wir haben gewonnen. Du gehörst auch dazu, Liebling!« Es ist das Plakative dieser Kritik, die sie stumpf macht. Denn so wenig eindeutig die Opfer der sozialen und kulturellen Katastrophe zu beschreiben sind, so wenig eindeutig die Täter.
Emanuele Crialeses »Respiro« (Lampedusa, 2002) erzählt in archaischen Bildern von der Frau eines Fischers auf der Insel Lampedusa, deren rebellisches Wesen sie zur Außenseiterin macht. Auch seine späteren Filme sind Studien der Fremdheit: In »Golden Door« (2006) geht es um die Auswanderung der verarmten Sizilianer in die USA zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, in »Terraferma« (2011) um eine Afrikanerin, die auf Lampedusa strandet. Vielleicht ist Crialese zugleich atypisch und symptomatisch für das unabhängige italienische Kino: Er hat Film in den USA studiert und sieht diesen Umweg als Chance, mit einem freieren Blick sein Land zu sehen. So könnten wir ein viertes Kino beschreiben, neben Cinepanettone, Melancholie und Nostalgie. Das Kino der Unbehaustheit. Ganz im Gegensatz zum Cinepanettone zeigt es ein Italien, das für niemanden mehr Heimat ist.
Gibt es so etwas wie ein italienisches Filmwunder? Mit dem Geld des Kulturministeriums ist es wohl nicht herbeizuführen, zumal es in weiten Teilen eher eine Umverteilung ist und an Erfolg und Wettbewerb zumindest ebenso interessiert wie an Qualität. Für den Rest dieses Jahres, das nominell eine sechzigprozentige Erhöhung der Filmförderung bringen soll, sind vor allem weitere Komödien angekündigt, darunter der nächste Aldo, Giovanni und Giacomo (»Fuga de reuma park«) und ein Checco Zalone. Das lässt nicht wirklich allzu viel erhoffen; der Panettone erfreut sich nach wie vor größter Beliebtheit, auch wenn man noch so viel davon gegessen hat und die Zutaten abgestanden sind.
Vom 6. bis 9. Oktober zeigt das Italienische Filmfestival Berlin zum dritten Mal ausgewählte aktuelle Produktionen, außerdem eine Paolo-Virzì Retrospektive. Schon am 16. September ist Checco Zalone zur Premiere von Quo Vado in Berlin; am 18. sind vier Filme von Zalone und seinem Regisseur Gennaro Nunziante zu sehen.
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