Kritik zu Mr. Holmes
Die Figur des Meisterdetektivs Sherlock Holmes wurde in den letzten Jahren mehrfach neu erfunden. Bill Condons Film zeigt ihn als alten Mann auf dem Lande. Ein Intellektueller, der seinem Gedächtnis nicht mehr trauen kann
Anno 1947 ist der ehemals berühmte Londoner Detektiv aus der Baker Street, Sherlock Holmes (Ian McKellen), 93 Jahre alt. Zurückgezogen, nur mit einer Bienenzucht, einer mürrischen Haushälterin und deren aufgewecktem Sohn Roger beschäftigt, lebt er in einem malerischen Landhaus in Sussex. Roger ist als letzter Vertrauter geblieben, nachdem Doktor Watson sich der Vermarktung des Mythos Holmes hingegeben hat.
Die Legende lebt ihr Eigenleben in den Medien, der Massenkultur. Literatur und Kino erhalten ein Bild von Holmes, in dem er sich kaum wiedererkennt. So trug er beispielsweise nie den legendären, karierten Deerstalker-Hut, rauchte lieber Zigaretten statt Pfeife und kann heute über die Phrase »Elementary, Dr Watson« nur lächeln. Oberflächlich ist Mr. Holmes ein ganz durchschnittlicher Geist, heiter, sympathisch und selbstzufrieden. Doch darunter lauert ein Drache, der alle Erinnerungen frisst und aus dem Individuum eine Splittergestalt macht: Holmes ist dement.
Um die Handlung zu motivieren, schickt Regisseur Bill Condon Holmes nun auf die Reise, lässt ihn alte Fälle wieder aufnehmen, die ihn bis nach Japan führen. Ein Mythos geht um die Welt, nicht zuletzt um sich selbst zu retten und eine magische Heilpflanze gegen das Vergessen zu finden. Das Ende ist ebenso spannend wie ernüchternd.
Bill Condon, heute vor allem für seine Regie beim Twilight-Doppelfinale »Breaking Dawn« bekannt, hat ein gutes Händchen, wenn es um den Schauspieler Ian McKellen geht. Schon in »Gods and Monsters«, dem ungewöhnlichen Biopic über den Frankenstein-Regisseur James Whale, verschaffte er ihm eine Oscarnominierung; sein eigenes Drehbuch wurde gar ausgezeichnet. McKellen spielt auch den immer noch arroganten, im Inneren aber tief verunsicherten Sherlock Holmes mit Bravour. Im faltenreichen Gesicht des »X-Men«- und »Herr der Ringe«-Stars lässt sich die Qual der verblassenden Erinnerung ablesen. Und dass es gerade einen hochintellektuellen Tüftler wie Holmes trifft, hat besondere Brisanz: Nun müssen die Kleinigkeiten des Alltags ebenso kombiniert werden wie die Indizien der Kriminalfälle, um ein stimmiges Bild zu erzeugen. In der Reihe aktueller Demenzfilme ist »Mr. Holmes« schon deshalb eine Ausnahme, weil er die Wirklichkeit zugunsten des Symbolischen selbstbewusst vernachlässigt. Und im Demenzthema geht der Film durchaus nicht auf; der literarische Holmes entfaltet seine Wirkung hier in mehreren Erzählsträngen.
In Anlehnung an Mitch Cullins Roman »A Slight Trick of the Mind« parallelisiert Bill Condon die Fragen nach Legende und Wahrheit mit denen nach Wirklichkeit und subjektiver Erinnerung – mit dem Ergebnis, dass die Lüge oft die tiefere Wahrheit enthält. Es gibt eine wahre Holmes-Renaissance zurzeit. Kino und Fernsehen erfinden die Figur von Arthur Conan Doyle ständig neu. Dabei wird Holmes zum Symbolträger par excellence, zum Wanderer durch Zeiten und Räume. Condon und sein Hauptdarsteller Ian McKellen haben dafür ein schönes Gespür.
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