Venedig: Zwiespältiges Erbe

Leni Riefenstahl bei der Kamera, während der Dreharbeiten von »Olympia« mit Joseph Goebbels und Hermann Göring auf der Tribüne (1936). (aus dem Nachlass). © Majestic Filmverleih

»Riefenstahl« (2024). © Majestic Filmverleih

In Venedig beschäftigen sich zwei deutsche Beiträge außer Konkurrenz mit Aufarbeitung von Geschichte: Andres Veiels Dokumentarfilm »Riefenstahl« und Tim Fehlbaums Rekonstruktion des Münchner Attentats von 1972, »September 5«

Kein anderes Filmfestival kann auf eine so lange und dabei auch zwiespältige Geschichte zurückschauen wie die Filmfestspiele von Venedig. Einer Premiere wie jetzt Andres Veiels neuem Dokumentarfilm »Riefenstahl«, der außerhalb der Konkurrenz um den Goldenen Löwen gezeigt wird, verleiht das ein besonderes Echo: Leni Riefenstahl war gleich im Gründungsjahr 1932 mit ihrem Film »Das blaue Licht« am Lido vertreten. 1938 wurde sie hier für ihre Olympia-Filme ausgezeichnet.

Für die Karriere Riefenstahls aber interessiert sich Veiels Film nur am Rande; er geht der Frage nach, an der sich zahlreiche Interviews und Dokumentarfilme in der Nachkriegszeit immer wieder die Zähne ausbissen: Was hat Riefenstahl, die von Hitler und Goebbels gefördert wurde, von den Nazi-Verbrechen tatsächlich gewusst und inwiefern kann man sie einer Mittäterschaft beschuldigen?

Anhand von neu zugänglich gewordenem Material aus ihrem Nachlass nimmt Veiel die Legenden, die Riefenstahl über sich selbst verbreitete und in denen sie sich entweder als ahnungslose Naive oder sogar als Opfer stilisierte, unter die Lupe. Was kann man jemandem glauben, der seine eigene Autobiografie so oft umschrieb wie die 2003 im Alter von 101 gestorbene Regisseurin? Veiels Film legt nahe – auch wenn es keinen endgültigen Beweis dafür gibt –, dass Riefenstahl mindestens an einer Stelle direkt Zeuge von Ermordungen in einem KZ wurde.

Großer Aktualität zeigt »Riefenstahl« aber nicht nur bei der Untersuchung dieser Vorstufe zu »Fake News«, sondern besonders im Schlaglicht, das der Film auf die Reaktionen von Zuschauern ihrer Talkshow-Auftritte wirft. Telefonprotokolle und Leserzuschriften belegen, wie groß die Zustimmung zu Riefenstahls »Ich wusste von nichts«-Haltung bis in die 70er Jahre hinein war. Hier wird Veiels Film, den Sandra Maischberger produziert hat und der auf eine Idee von ihr zurückgeht, zu einem so aufschlussreichen wie unbequemen Porträt der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft.

Von einem zwiespältigen und furchtbaren Ereignis der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte handelt auch »September 5«, eine deutsche Produktion mit vorwiegend amerikanischen Darstellern, die ihre Weltpremiere in der Sektion »Orizzonti Extra« feierte. Regie führt der Schweizer Tim Fehlbaum, der mit »Hell« (2011) und »Tides« (2021) sein Talent für Genrefilme an den Tag legte. Das zu Unrecht vergessene Datum steht für das Attentat auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele in München 1972.

Der Film rekonstruiert den Tag, der am frühen Morgen mit der Geiselnahme begann und spät in der Nacht mit einem missglückten Befreiungsversuch am Flughafen von Fürstenfeldbruck endete, bei dem sämtliche Geiseln zu Tode kamen. Fehlbaums Kunstgriff besteht darin, die Geschehnisse allein aus Sicht der Reporter des amerikanischen Senders ABC zu zeigen, die ihr Studio direkt gegenüber dem Olympischen Dorf hatten und, ein Novum in der Mediengeschichte, live vom Ort des Terroranschlags berichteten.

»September 5« ist ein ausgesprochen packender Film, weil Fehlbaum, der zusammen mit Moritz Binder auch das Drehbuch schrieb, sich an die Konventionen des amerikanischen »Workplace Drama« hält. Peter Sarsgaard, Ben Chaplin und John Magaro spielen Profis der Sportberichterstattung, die ohne zu zögern, fast skrupellos, sämtliche Tricks ihres Berufs anwenden, um über das zu berichten, was sich vor ihren Augen abspielt. Dass das alles mit analogen Mitteln, also mit Filmrollen, herkömmlichen Telefonen und nach Stundenplan gebuchten Schaltungen per Satellit vonstattengehen musste, inszeniert der Film mit grandiosem Gespür fürs Detail, amerikanischem Sinn für Humor und passgenauer Einbindung von Originalaufnahmen.

Die ethischen Fragen, vor die sich die Reporter dabei gestellt sahen – welche Bilder eines Attentats sind noch live übertragbar und inwiefern macht man sich zum verlängerten Arm der Terroristen – gehen in der Hektik des Geschehens etwas unter, kommen aber vor. Leonie Benesch als deutsche Assistentin im ABC-Büro erfüllt ihre Rolle vielleicht eine Spur zu reflektiert und politisch korrekt, was aber der Spannung des ausgesprochen gelungenen Dramas keinen Abbruch tut.

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