Venedig: Das Zeug zum großen Kinoauftritt
»Argentina, 1985« (2022). © Amazon
Timothée Chalamet und »Argentina, 1985« begeistern in Venedig das Festivalpublikum. Doch während die Coming-of-Age-Liebesgeschichte mit Chalamet die Kritiker eher kalt lässt, entfaltet der argentinische Film über die Junta-Prozesse emotionale Wucht
Aus welchem Film wird ein Oscar-Favorit? In den Jahren vor der Pandemie war das die Frage, die das Publikum auf dem Filmfestival von Venedig neben der nach dem möglichen Goldenen-Löwen-Gewinner am meisten bewegte. Auf dem diesjährigen Festival beschäftigt die versammelte Branche etwas viel Grundsätzlicheres: Welche der hier vorgestellten Filme werden es überhaupt noch ins Kino schaffen? Was sind die Stoffe, wer sind die Stars, die ein Publikum zum Kauf eines Kinotickets verführen könnten?
Da zeigt sich die wahre Funktion des Roten Teppichs: Man kann wunderbar ablesen, welche Stars das nötige Potenzial haben. Die Begeisterung, die der 26-jährige Timothée Chalamet (»Dune«) hier anlässlich der Premiere von »Bones and All« vor dem Palazzo del Cinema auslöste, lässt direkte Rückschlüsse darauf zu, welche Chancen der neue Film des italienischen Regisseurs Luca Guadagnino (»Call me by Your Name«) an der Kinokasse haben wird.
Schon mittags lagerten erste Fans an der Absperrung, das Gedränge am Abend war groß, die Begeisterung darüber, dass Chalamet zum Bad in der Menge bereit war, fast mit den Händen zu greifen. Dementsprechend wurde der Film auch im Saal gefeiert. Die Kritiker konnte Guadagninos Desperado-Roadmovie, das die Motive einer Coming-of-Age-Liebesgeschichte mit Kannibalismus-Horror unterlegt, dagegen weniger überzeugen, verliert der Film doch über seiner sorgfältigen Musik-Bestückung und 80er-Jahre-Ausstattung die Entwicklung seiner Figuren aus dem Blick.
Als Horrorfilm zu harmlos und als Geschichte junger Liebe zu drastisch und zu keusch, bleibt dem Film als Trumpf der große Charme seiner Hauptdarsteller Chalamet und Taylor Russell. Für die erfolgreiche Kinoauswertung mag das genügen.
Den Ehrgeiz der großen Leinwand sah man auch dem französischen Wettbewerbsbeitrag »Athena« von Romain Gavras an, Sohn des großen Costa-Gavras. Der Film beginnt mit einer Pressekonferenz, auf der ernste Männer Aufklärung über einen Fall von Polizeibrutalität versprechen. Kurz darauf wird diese von einem Anschlag unterbrochen, der nahtlos übergeht in einen Aufstand, in dem ein ganzes Vorstadt-Viertel übernommen wird. Gefilmt ist das alles in einer einzigen Plansequenz, oder der Imitation einer solchen. Ohne sichtbare Montage oder Schnitt begleitet die Kamera ein Geschehen, das eine Vielfalt von Feuerwerk, Fahrzeugen und Statisten, untermalt von hochdramatischer Musik involviert.
Es liegt auf der Hand, was Gavras mit seiner entfesselten Bürgerkriegs-Choreographie belegen will: Das Chaos des Aufstands wird quasi sinnlich erfahrbar. »Athena« will vorführen, wie es aussieht, wenn das sprichwörtliche Pulverfass gezündet wird. Für den Zuschauer kommt der Film einer geradezu physischen Erfahrung gleich, in der Spannung und handwerkliche Brillanz zusammenkommen.
Der lang erwartete neue Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu wendet ganz ähnliche filmische Techniken an, obwohl er thematisch kaum gegensätzlicher sein könnte. »Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten« ist die Selbstbefragung eines erfolgreichen Dokumentarfilmers – unverkennbar ein Alter Ego des Regisseurs –, der das Resümee seines Lebens zwischen der Heimat Mexiko und dem Berufsstandort USA, zwischen Kommerz und Autorschaft, intellektueller Redlichkeit und Ausverkauf zieht.
Wie Gavras setzt Iñárritu immer wieder die Technik der Plansequenz ein, die Dringlichkeit und Gedankenfluss vermittelt. Aber auch »Bardo«, mit fast drei Stunden überlang und selbstbespiegelnd, ist ein Film, den man mehr für seine technische Finesse bewundert, als dass er berührt.
Dass ein Film das Publikum zu Tränen rührt, ist eher selten geworden.. Bei »Argentina, 1985« von Santiago Mitre aber blieb kaum ein Auge trocken. Zugleich wurde auch selten so viel gelacht. Mitre erzählt von den »Junta-Prozessen« in Buenos Aires in einer altbewährten Mischung aus prominenter Besetzung, geschliffenen Dialogen und flottem Erzähltempo. National-Ikone Ricardo Darín spielt den Staatsanwalt Julio Strassera, der 1985 seine Landsleute damit überraschte, dass mit ihm an der Spitze die gerade erst neu-etablierte argentinische Demokratie gerichtlich mit der Diktatur abrechnete. Mitres Film macht einen überaus amüsanten »Helden wider Willen« aus ihm, der von Kindern und Ehefrau bespöttelt wird.
Aus dem Ernst der Situation kreiert das Drehbuch einen Witz, der überaus wirkungsvoll in bitteren Ernst umschlägt, als in langen, dokumentarisch angelegten Zeugenaussagen die Folterpraktiken des Junta-Regimes benannt werden. Visuell und »technisch« gesehen bietet »Argentina, 1985« nicht viel Neues, trotzdem entfaltet der Film eine ungeheure emotionale Wucht, die ihn zum bislang berührendsten Kinoerlebnis dieses Festivals machen.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns