Venedig: Das Kino und seine Macht
»Weißes Rauschen« (2022). © Wilson Webb/Netflix
Zum Auftakt des Filmfestivals in Venedig beschwören Catherine Deneuve und Wolodymyr Selenskyj einmal mehr die Macht des Kinos. Der deutsche Film macht durch Schauspieler in herausragenden Nebenrollen auf sich aufmerksam
Jahreszahlen spielen eine große Rolle auf dem Filmfestival von Venedig. Es wurde vor 90 Jahren gegründet, findet in diesem September zum 79. Mal statt und öffnete vor sieben Jahren seinen Wettbewerb für die Filme auch des Streamingportals Netflix. 2018 gab es für Alfonso Cuarons »Roma« den ersten Goldenen Löwen für ein Netflix-Label, der danach zehn Oscar-Nominierungen für sich verbuchen konnte. Auch Noah Baumbachs »Marriage Story« mit Adam Driver erhielt 2018 durch seine Venedig-Premiere einen Auftrieb, der sechs Nominierungen folgten.
Trotzdem oder gerade deshalb ist die Konkurrenz von Streaming und Kino in den vergangenen Jahren zum fast wichtigsten Thema des Festivals am Lido geworden. Die Spannung trat einmal mehr bei der diesjährigen Eröffnung am Mittwoch zutage: Da beschworen sowohl die diesjährige Jury-Präsidentin Julianne Moore als auch die für ihr Lebenswerk geehrte Catherine Deneuve mit leidenschaftlichen Worten das Kino als Erlebnisort, der für die Filmkunst nicht zu ersetzen ist. Der im Anschluss gezeigte Eröffnungsfilm aber trug das Logo Netflix: Noah Baumbachs Literaturverfilmung »White Noise«.
An die Macht des Kinos appellierte während der Eröffnungsfeier auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der wie bereits im Mai in Cannes für eine Videobotschaft zugeschaltet wurde. Selenskyj forderte dazu auf, in der »deutlichsten Sprache, die es gibt, der Sprache des Kinos« über den Krieg und das, was der Ukraine angetan wird, zu reden. Sein Appell endete allerdings nicht mit Kriegsbildern, sondern einer »Titelrolle« mit den Namen von 358 Kinder und Jugendlichen, die dem Krieg zum Opfer fielen.
Der Eröffnungsfilm »White Noise« ist die Adaption eines bislang als unverfilmbar geltenden postmodernen Romans von Don DeLillo aus dem Jahr 1985. Die Hauptrolle spielt Adam Driver, der einen Geschichtsprofessor mit dem Schwerpunkt »Hitler-Studien« an einem US-amerikanischen Provinz-College verkörpert. Er ist zum vierten Mal verheiratet und das Oberhaupt einer Patchworkfamilie mit vier Kindern. Seine Frau Babette (Greta Gerwig) steckt in einer Art Midlife-Crisis, in der sie die Angst vor dem Tod plagt. Als in der Nähe ein Gastank-Unfall eine Giftwolke auslöst, kommen die Überlebens-Fähigkeiten der ganzen Familie auf den Prüfstand.
Zu den vergnüglichen Überraschungen des Films gehören zwei kurze, aber sehr prägnante Auftritte großer deutscher Schauspieler im letzten Akt: Sowohl Lars Eidinger als auch Barbara Sukowa stellen unter Beweis, dass es dem deutschen Kino nicht an Stars mangelt.
Noah Baumbach übersetzt den satirischen Montage-Ton der Vorlage in einen Strom sich überlappender Dialoge und Szenen mit schwarzem, slapstick-haftem Humor. Die Themen des Buchs – Kritik am Medien- und Konsum-Zeitalter, das Verschwörungstheorien hervorbringt und den echten Gefahren der Welt nicht gewachsen ist –, sind alle heute noch aktuell, wirken in der an Spielberg-Filme erinnern wollenden Ton von Baumbachs Film aber seltsam altbacken. Zerfallend in eine Art Nummernrevue galliger Zeitkritik und 80er-Jahre-Nostalgie wurde der Film am Lido zwar sehr wohlwollend aufgenommen. Dass man mit ihm die Kinos füllen könnte, scheint aber eher unwahrscheinlich. Auf dem Streamingportal ist er dagegen wohl ganz gut aufgehoben.
Sehr viel mehr Kinopotenzial, wenn auch im klassischen Arthouse-Markt, besitzt dagegen die zweite Premiere im diesjährigen Wettbewerb, Todd Fields Dirigentinnen-Porträt »Tár« mit Cate Blanchett in der Hauptrolle. Sowohl inhaltlich – es geht um unsere Postcovid-Ära, um Identitätspolitik und Sexismus, alles aus überraschender Perspektive – als auch in der Besetzung erweist sich »Tár« als aufregendes Stück über die unmittelbare Gegenwart.
Der Film erzählt von einer weiblichen Machtperson und ihrem Beziehungsgeflecht. Blanchett verkörpert die erfolgreiche Orchesterleiterin Lydia Tár, die im Film seit einigen Jahren die Berliner Philharmoniker leitet. Ihre Lebensgefährtin wird von einer herausragenden Nina Hoss gespielt, und die Französin Noémie Merlant gibt Társ Assistentin Francesca. Beide Frauen haben ihren eigenen Blick auf die dominante Dirigentin im Zentrum, die ihre Machtstellung mehr und mehr für Übergriffe ausnutzt.
Field zeichnet nicht nur ein interessantes und präzises Bild einer weiblichen Dominanz-Figur, sondern auch der professionellen Gebräuche in der Orchesterwelt. Das Konventionelle seines Erzählstils stellt sich bei genauer Betrachtung als messerscharfer Blick ins Widersprüchliche und Abgründige heraus.
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