Venedig: Festivaltunnel & japanischer Identitätstango
»Aru Otoko« (A Man, 2022)
Wenn es in den Festivaltunnel hineingeht, beim Filmfest in Venedig gleich mit dem Boot vom Flughafen Marco Polo aus, ist die Wahrnehmung schnell und ganz selbstverständlich kinematografisch gefärbt und aufgeladen. Während ich im Boot über das Wasser rausche und die Möwen und venezianischen Häuschen auf den kleinen Inseln anschaue, kommt mir Yuri Ancaranis bald in Deutschland startender Film »Atlantide« in den Sinn: ein – by the way sehr sehenswerter –, auf die Wirklichkeit aufgepfropfter Hybrid aus Dokumentar- und Spielfilm, in dem die Stadt im Wasser und ihre Lagune aus der Sicht von Motorboot-Proleten in Zentralperspektiven verführerisch und neonfarben leuchten. Der Film passt mit seinen Fragen zum Verhältnis von Realität und Kino zur bedeutungsgeschwängerten Festivalvorfreude. Es kommt immer auf die Perspektiven an, Gewissheiten sind Illusionen.
In diese Gedanken fügte sich dann auch mein erster Festivalfilm dieser 79. Mostra, Kei Ishikawas Orizzonti-Beitrag »Aru Otoko« (A Man), gut ein. Der japanische Regisseur inszeniert in ruhigen Bildern ein Vexierspiel um Identität. Was mit den Tränen von Rie beginnt, die von ihrem ersten Mann geschieden ist und mit dem Kennenlernen zwischen ihr und ihrem Zukünftigen, dem Malbegeisterten Daisuke, seinen Lauf nimmt, stellt nach und nach viele Gewissheiten in Frage. Nachdem Daisuke beim Holzfällen von einem Baum erschlagen wird, stellt sich heraus, dass er nicht der war, der er zu sein vorgab. Beauftragt von Rie versucht Anwalt Kido, die wahre Identität ihres zweiten Manns herauszufinden.
»Aru Otoko« wimmelt vor Figuren, die entweder wer anders sein wollen oder nicht sein dürfen, wer sie sind. Der tote Daisuke scheint ein Identitätenwandler mit schwieriger Kindheit, Keido erlebt Anfeindungen wegen seiner koreanischen Herkunft. Wenn am Rande in einer Fernsehsendung Krawalle von rassistischen Deppen zu sehen sind, wächst das Thema Identität von einem persönlichen zu einem gesellschaftlichen in diesem von Nationalismen geprägten Umfeld.
Ishikawas ruhiger Film mäandert selbst durch die Genres wie seine Figuren durch verschiedene Ichs. Auf melodramatische Momente mit Regengüssen folgt eine klassische, aber doch zuckersüße Liebesgeschichte, folgt Identitätsthriller mit Boxerfilm-Anleihen. Ein manchmal zu gewollt großspuriger und kalkulierter, aber in sich konsequenter Film, der zum Nachdenken anregt. Was macht uns eigentlich zu denen, die wir sind oder glauben zu sein?
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