Venedig: Raus aus der Blase
»22 July« (2018). © Netflix
Paul Greengrass porträtiert in »22. Juli« eine Gesellschaft, die nach dem Breivik-Attentat um ihre Zivilität ringt, Dokumentarfilmer Errol Morris lässt Trump-Berater Steve Bannon zu Wort kommen: Am Samstag endet das 75. Filmfestival von Venedig mit der Vergabe der Goldenen Löwen
Wie soll man Filme drehen über Neo-Nazis, Terroristen oder ihre Vordenker, ohne ihnen zugleich ein Podium zu verleihen und ihr Denken, wie es heute so oft heißt, zu »normalisieren«? Dieser Frage stellten sich gen Ende des 75. Filmfestivals von Venedig zwei so verschiedene Regisseure wie der Action-Spezialist Paul Greengrass (»Jason Bourne«) und der Dokumentarfilm-Altmeister Errol Morris (»The Fog of War«). Beide riefen mit ihren Filmen beim Publikum mehr als gemischte Gefühle hervor, aber beiden kann man nicht absprechen, dass sie ernsthaft um eine produktive Diskussion bemüht sind.
Paul Greengrass verfilmt in »22. Juli« die Ereignisse rund um das Attentat des norwegischen rechtsextremistischen Massenmörders Anders Breivik auf der Insel Utøya im Jahr 2011. Der Zufall will es, dass kaum drei Wochen bevor Greengrass' Film international auf Netflix startet (am 10.10.), Erik Poppes »Utøya 22. Juli« (am 20.9.) in Deutschland in die Kinos kommt. Wo Poppe, dessen Film im Februar auf der Berlinale Premiere feierte, mit seiner Realzeiterzählung des Attentats ganz bewusst die Opfersicht wiedergeben will und Breivik als gesichtslosen Massenmörder nur im Bildhintergrund zeigt, lässt Greengrass ihn in seinem Film von einem Schauspieler interpretieren – als roboterhaften, aber akribisch handelnden Mann mit sehr, sehr fixen Ideen. »22. Juli« setzt ein mit dem Bombenattentat in der Hauptstadt, zeigt Breiviks Überfahrt zur Insel und seinen Mordrausch dort, um anschließend den Großteil der Laufzeit mit Schock, Trauer und mühsamer Heilung einiger Betroffener und dem Prozess gegen Breivik zu verbringen.
Das bemerkenswerte an »22. Juli« ist, dass Greengrass zwar die gewohnten Mittel seiner Action-Handschrift einsetzt, mit schnellen Schnitten und vielen wechselnden Schauplätzen, die trockene Sachlichkeit seiner Inszenierung diesmal aber in den Dienst eines gesellschaftlichen Porträts stellt. In jeder Einstellung, die den Täter zeigt, glaubt man die Überlegung über den Umgang mit ihm zu spüren. In jeder Szene mit Opfern und Betroffenen merkt man den Willen, dem Terrorakt und den dahinter wabernden rechtsextremen Vorstellungen etwas entgegensetzen zu wollen. Vom Ministerpräsidenten, der in einer Ansprache danach die Norweger auffordert, dem Terror nicht nachzugeben und die Gesellschaft eben nicht zu verändern, über den Verteidiger, der am Recht auch für den Verbrecher festhält und dafür angefeindet wird, bis zum schwerverletzten Jungen, der sich durchringt, als Zeuge im Prozess auszusagen: sie alle sind im Film Vorbilder einer demokratischen Gesellschaft und ihrer zivilen Würde. Dass man ihnen den Kampf um diese Haltung anmerkt, macht »22. Juli« zu einem sehr sehenswerten und doch auch hoffnungsvollen Film.
Eher pessimistisch fällt dagegen das Fazit nach Errol Morris' »American Dharma« aus. Darin setzt Morris sich mit dem ehemaligen Trump-Berater Steve Bannon auseinander, der als Medienmann der amerikanischen »Alt-Right«-Bewegung zu viel Prominenz verholfen hat. Mit Bannon unterhält sich Morris über die bekannten neuralgischen Punkte des amerikanischen Präsidentenwahlkampfs – und über Lieblingsfilme wie den Kriegsfilm »Der Kommandeur« mit Gregory Peck, in denen Bannon seine krude Philosophie wiederzufinden glaubt. Tatsächlich überlässt Morris seinem Protagonisten viel Terrain, lässt ihn sich selbst loben und seine Gedanken entwickeln ohne zu widersprechen. Die Dinge, die Bannon sagt, stehen so für sich; man kann glänzend beobachten, was Bannons Stärken sind, wie gut er die neuralgischen Punkte unserer Gegenwart in Parolen umwandeln kann, die seine Basis festigen. Ein Mann, der vom »einfachen Arbeiter« spricht, dem er anders als der »Davos-Elite« gerne die Macht überlassen würde, damit aber natürlich nur ein bestimmtes Demografie-Segment meint: den weißen Mann. In den USA seit der Entlassung aus dem Weißen Haus weniger gefragt, hört man ihn am Ende des Films seine Reden schon auf Europas Ängste abstimmen, von wegen Überwachungsstaat und übernationaler Gängelung. »American Dharma« ist ein in vielerlei Hinsicht unangenehmer Film, der sich für jeden lohnt, der über die eigene Blase hinausschauen will.
So ist das Festival von Venedig nach zahlreichen historischen Lektionen, Kostüm- und Genre-Filmen gen Ende doch noch ganz in der politischen Realität des Hier und Heute angekommen. Als Favoriten auf den Goldenen Löwen kommt Greengrass' Film in diesem herausragenden Jahrgang neben quasi der Hälfte des Wettbewerbs in Frage. Der Liebling der Kritiker ist jedoch Alfonso Cuaróns panorama-artige Hommage an das stille Wirken der Hausmädchen und das Mexico City seiner Kindheit in »Roma«. Beim italienischen Publikum steht Henckel von Donnersmarcks »Werk ohne Autor« ganz oben. Die Jury, so zeigt die Erfahrung, wird noch mal anders entscheiden. Ob sich Guillermo Del Toro und seine Kollegen auf den ebenfalls sehr gut angekommen »The Favourite« einigen werden können? Oder eine Lanze brechen für das polarisierende Remake »Suspiria«, den eleganten Neo-Horror von Luca Guadagnino? Große Chancen spricht man auch dem Franzosen Jacques Audiard und seinem Neo-Western »The Sisters Brothers« zu. Aber wie gesagt, weder der elegische ungarische Beitrag »Sunset« über den Untergang Österreich-Ungarns noch Damien Chazelle und sein »Aufbruch zum Mond« können als Preisträger ausgeschlossen werden. Und für Paul Greengrass und »22. Juli« wäre zumindest ein Regie-Löwe denkbar.
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