Kritik zu Wolke 9

© Wild Bunch

Andreas Dresens nüchterner und behutsamer Film über Sexualität und Ehebruch im Alter war einer der Publikumslieblinge beim diesjährigen Filmfestival in Cannes

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Nackte Senioren! Okay, jetzt haben wir es schon fast hinter uns. »Wolke 9« handelt von einem Thema, zu dem es im zeitgenössischen Kino kaum Bilder gibt: die Sexualität im Alter. Und wie jeder Film, der sich mit einem gesellschaftlichen Tabu befasst, muss er einen Weg finden, es ein Stück weit zu beschwören und es dann erzählerisch zu überwinden, damit das Tabu seine Macht über die Geschichte, die Figuren und die Zuschauer verliert. Als Kritiker steckt man in demselben Dilemma: Um der speziellen Form und dem Inhalt eines solchen Films gerecht zu werden, muss man sich rhetorisch erst mal vor dem verhandelten Tabu verneigen, um ihn dann aus dessen Schatten herauszuführen.

Bringen wir es also, genau wie Dresen selbst, schnell hinter uns. Denn ähnlich wie Hitchcock, der seine Auftritte in seinen Filmen immer an den Beginn platzierte, damit die Zuschauer sich hinterher der eigentlichen Handlung widmen konnten, präsentiert Dresen den Sex gleich am Anfang. Inge (Ursula Werner), Ende 60, bringt Karl (Horst Westphal), Mitte 70, eine Hose, die sie für ihn umgenäht hat. Es ist heiß in Berlin, Inge schwitzt, Karl zieht seine alte Hose aus, um die neue anzuprobieren, und mehr braucht es ja manchmal nicht, damit zwei einander fremde Menschen die Lust überkommt. Die folgende Sexszene ist dicht dran an den aus der Form gekommenen Körpern, ohne sie auszustellen, nichts wird weichgezeichnet oder verhüllt, aber zu sehen ist auch nicht wirklich viel, und Gott sei Dank dauert es auch nicht ewig. Eine Sexszene halt. Das hätten wir hinter uns.

Nach dem Seitensprung verlässt Inge heimlich die Wohnung Karls, während er duscht, und kehrt zurück in ihr trautes Leben. Tagsüber sitzt sie meist an ihrer Nähmaschine, ihre 30-jährige Ehe mit Werner (Horst Rehberg) ist intakt, die beiden brauchen nicht viele Worte, um sich ihrer gegenseitigen Zuneigung zu versichern. Sie schlafen noch miteinander, und an den Wochenenden besuchen sie manchmal ihre Kinder oder machen einen Ausflug mit der Eisenbahn, für die Werner eine Passion hat. Still ist diese Zweisamkeit und nicht sonderlich aufregend, aber doch auch zärtlich und erfüllt. Dresen zeigt Inge nicht als eine verzweifelte Rentnerin, die in eine lieblose Ehe eingesperrt ist, sondern als ganz normale Frau. Mit ganz normalen Wünschen und Begierden..

Und die lassen sich auch im Alter nicht einfach so in den Schrank sperren. Eines Tages packt Inge wieder die Sehnsucht und sie sucht Karl auf, schläft wieder mit ihm. Ihre Tochter (Steffi Kühnert), der sie alles beichtet, ermutigt sie zu der Affäre, beschwört sie aber, Werner nichts zu sagen. Sie soll es genießen, doch das gelingt Inge immer weniger, ihrem Mann kann sie bald kaum noch ins Gesicht sehen. Überhaupt, diese Gesichter. Wie schon in seinem Eifersuchtsdrama »Halbe Treppe« hat Dresen mit kleiner Crew und ohne Drehbuch gedreht. Doch anders als der frühere Film ist »Wolke 9« sehr still, es wird wenig geredet, dafür sprechen die Gesichter Bände. Wie Wolken am Himmel ziehen die Emotionen über das Gesicht der Schauspielerin Ursula Werner; Begierde, Angst, Neugier, Trauer zeigen sich im schnellen Wechsel. Die Blicke, mit denen sie Karl beim Hosenwechsel verschlingt – wie ein junges Mädchen vor ihrer Hochzeitsnacht sieht sie aus, und im nächsten Moment wie eine erfahrene Frau, die genau weiß, was sie will.

Als Inge ihrem Werner schließlich gesteht, dass sie mit einem anderen Mann geschlafen hat und ihn auch weiterhin sehen möchte, ist es jedoch vorbei mit der Stille. 30 Jahre gut geölte Ehe und beredsames Schweigen zerplatzen wie eine Seifenblase, und gemeinsam mit Werner möchte man sich empören: Denk doch nach, Inge, so geht das nicht, man kann doch nicht so spät im Leben noch ein ganzes gemeinsames aufs Spiel setzen. Oder doch? An diesem Punkt, ab dem man als Rezensent nichts mehr preisgeben darf, nimmt der leichte Erzählton eine Wendung ins Bedrohliche und Tragische, und »Wolke 9« erreicht das eigentliche Tabu, von dem er handelt: nämlich, dass Senioren nicht nur ein Sexualleben haben, sondern auch große, widersprüchliche Gefühle und eine Zukunft, über die sie selbst bestimmen möchten. Eine ganz einfache Geschichte also. Seltsam, dass sie noch nie jemand erzählt hat.

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