Kritik zu Wir sind was wir sind

© Alamode

2010
Original-Titel: 
Somos lo Que Hay
Filmstart in Deutschland: 
02.06.2011
L: 
90 Min
FSK: 
18

Kannibalen in Mexiko-City: In Jorge Michel Graus Debütfilm sucht eine Familie von Menschenfressern nach frischer Nahrung

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Als Tobe Hooper 1974 in »The Texas Chainsaw Massacre« eine Familie kannibalistischer Metzger auf eine Clique Jugendlicher losließ, erzählte er die Geschehnisse aus Sicht der ahnungslosen Opfer. Die Identifikationsmuster waren somit eindeutig und klar. Der mexikanische Filmemacher Jorge Michel Grau verschiebt in seinem deutlich von Hoopers Meisterwerk inspiriertem Debüt die Perspektive auf entscheidende Weise: In »Wir sind was wir sind« stehen nicht die Opfer im Mittelpunkt, sondern die Täter: eine ärmliche Arbeiterfamilie aus Mexiko-City, die von Menschenfleisch lebt. Die Erzählung setzt mit dem unerwarteten Tod des Vaters und »Ernährers« ein und schildert die Versuche der beiden erwachsenen Söhne, gemeinsam mit ihrer Schwester für neues Fleisch zu sorgen. Der Hunger scheint dabei nur eine der Triebfedern zu sein, denn offenbar huldigt die Familie mit den »Hausschlachtungen« auch einem bizarren religiösen Kult.

Menschenfresser jeder Art sind im Kino schon lange eine dankbare Metapher für soziale Missstände. Besonders originell ist das nicht mehr, aber wenn die Rahmenbedingungen und die Ideen stimmen, kann die Symbolhaftigkeit noch immer funktionieren. Leider bleibt Grau in dieser Hinsicht verblüffend unentschieden.

Zu Beginn wirkt das Ganze in seinem düsteren Realismus noch wie eine Kapitalismus-Allegorie à la Romero: Da sehen wir den Vater in einer Shopping Mall buchstäblich verrecken; Sekunden später wird der Leichnam weggeschafft, und ein Reinigungsteam eliminiert jede Spur des Vorfalls. Angesichts der aktuellen Lage in Mexiko, mit einem blutigen Drogenkrieg auf der einen und einer immer größeren sozialen Kluft auf der anderen Seite, ist dieser kapitalismuskritische Ansatz zwar nicht innovativ, aber nachvollziehbar. Wenn Grau ihn denn konsequent verfolgen würde.

Stattdessen schildert er die immer neuen Zerwürfnisse innerhalb der Kannibalenfamilie, deren Mitglieder dabei sehr holzschnittartig bleiben: Da gibt es die bigotte, grausame Mutter, den gewalttätig-hitzköpfigen Sohn, den latent schwulen Weichling und die hübsche, manipulative Schwester. Diese Konstellation wiederum hätte das Zeug zu einer Satire auf filmische Familienklischees, aber während Grau an anderer Stelle durchaus schwarzhumorig wird, löst der bittere Ernst, mit dem er seine vier Kannibalen zeichnet, eher unfreiwillige Komik aus. Dramaturgisch geht seine Konzentration auf die Täter sowieso nach hinten los: Kann ein Film funktionieren, dessen abstoßenden Hauptfiguren man als Zuschauer eigentlich nur Schlechtes wünscht? Zu dieser Darstellung der Arbeiterfamilie passt freilich, dass Grau den Kannibalismus auf geradezu zynische Weise als klassenimmanentes Unterschichtenphänomen darstellt: Die Unterprivilegierten fressen sich nicht aus Not gegenseitig auf, sondern um ihren primitiven, blutrünstigen Ritualen zu huldigen – sie sind, was sie sind. Und ihre Opfer sind jene, die in der Hierarchie noch tiefer stehen: Straßenkinder, Prostituierte, Schwule. So gesehen zeigt der Film durchaus eine sozialkritische Haltung, wenn auch keine sehr sympathische.

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