Kritik zu Tango Libre

© Movienet

Wenn kontaktscheue Pedanten im Kino Tanzunterricht nehmen, bringt das unweigerlich neuen Schwung in ihr Leben. In die Annalen des Tangokinos wird Frédéric Fonteynes Film jedoch aus einem anderen Grund eingehen

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Jean-Christophe, den alle Welt JC nennt, ist einer jener tragikomischen Helden, deren romantische Läuterung keinen Aufschub duldet. Wie dringend der penible Gefängsnisaufseher lernen muss, einmal über die Stränge zu schlagen, stellt Frédéric Fonteynes Film gleich zu Beginn unmissverständlich klar. Da bremst er vor einer einsamen Ampel, die auf Rot schaltet. Weit und breit ist kein anderes Fahrzeug zu sehen. Aber die Haltelinie respektiert der Vollzugsbeamte akkurat.

Um die Feierabende nicht nur mit seinem altersschwachen Goldfisch zuzubringen, hat JC (François Damiens) sich für einen Tangokurs eingeschrieben. Eine gute Figur macht der Zauderer dabei nicht. Das ist besonders verdrießlich, als im Kurs die aparte Alice (Anne Paulicevich) auftaucht. Sie merkt rasch, wie ungeeignet er als Tanzpartner ist: Es gebricht ihm an Gefühl. Sein eigentliches Problem umspielt der Film verschämt, denn politisch korrekt sind die Geschlechterverhältnisse ja nicht mehr, die sich traditionell im Tango offenbaren: Da muss der Mann entschlossen führen und die Frau ihm selbstbewusst folgen. Aggressiv und viril tritt der ungelenke Schlaks wirklich nicht auf. Seine Lebensrolle ist die des unscheinbaren Beobachters.

Allerdings verführt ihn die Begegnung mit Alice bald, einen Tabubruch zu begehen. Unversehens trifft er sie im Zuchthaus als Besucherin Fernands (Sergi López) wieder. Auch mit dessen Komplizen Dominic (Jan Hammenecker) ist sie offenbar liiert. Zwar ist JC der private Kontakt zu Angehörigen strikt untersagt. Dennoch verstrickt er sich immer tiefer in dieses unübersichtliche und brisante Beziehungsgeflecht. Fonteyne, der mit dem erotischen Kammerspiel Eine pornografische Beziehung gezeigt hat, wie geschickt er intime Expeditionen des Augenblicks in abgeschlossenen Räumen zu inszenieren versteht, hat keine nonchalante Menage à quatre im Sinn. Es eröffnen sich tragische Abgründe. Auch wenn JCs Rivalen ein leidlich großes Herz haben, bleiben sie doch harte Burschen. Alice ist eine bewundernswert unergründliche Heldin. Obwohl ihre Männer die nächsten Jahrzehnte in Haft verbringen werden, bleibt sie ihnen eine loyale Gefährtin. Auch ein Kind ist im Spiel, dessen Vaterschaft plötzlich Fragen aufwirft. Anne Paulicevich hat das Drehbuch verfasst (zusammen mit dem versierten Philippe Blasband); umso erstaunlicher, dass sich in ihm wider alle Wahrscheinlichkeit der Männertraum einer zaghaften Liebe zwischen dem verschubsten Wärter und der Gangsterbraut erfüllt.

Fonteyne findet einen schönen Montagerhythmus für diese Geschichte, führt den Alltag der Figuren parallel, spielt mit dem Motiv der Überwachung; in jeder Szene behält man die anderen Beteiligten im Hinterkopf. Weder den Tango noch die Freiheit, die der Filmtitel in Aussicht stellt, verliert er dabei aus den Augen. Im Gefängnis bricht nämlich nach und nach eine Tanzepidemie aus. Mannhaft überwinden die Insassen ihre Vorurteile. Wie sie ihre Berührungsängste verlieren und sich in den Taumel des sinnlichen Paartanzes geben, ist ein weit mitreißenderes und originelleres Vergnügen, als es die flaue Liebesbekehrung JCs bereitet.

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