Kritik zu Still Walking

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Jede unglückliche Familie aber ist unglücklich auf ihre Weise: Hirokazu Kore-eda führt Eltern, Kinder und Kindeskinder am Todestag des ältesten Sohns zusammen und geht den Spuren der lastenden Gegenwart des Vergangenen nach

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»Wir sind nur Menschen«, sagt Ryota ziemlich genau in der Mitte von »Still Walking«. Der Satz funktioniert in zwei Richtungen; und für welche man sich entscheidet, hängt davon ab, aus welcher Warte man auf das Leben schaut: ob man die Unzulänglichkeit des Einzelnen und die Ungerechtigkeit des Ganzen als Grund zur Klage begreift. Oder als Anlass zur Nachsicht.

Kore-edas Film wirbt eher für letzteres, ohne dass er darunter billiges Sentiment verstehen würde. »Still Walking« beobachtet kühl eine Familie beim Zusammensein, bei dem die sparsam eingesetzte Musik für den versöhnlichen Ton zuständig ist. Es geht, da drei Generationen zusammenkommen, um hohe Erwartungen, divergierende Auffassungen, alte Verletzungen – und um den Zusammenhang Familie, aus dem es, bei allen Missverständnissen, keinen Ausweg gibt.

Im Haus der Eltern, sie eine emsige Hausfrau, er ein stolzer Arzt, treffen die Kinder mit den Enkeln zur jährlichen Zusammenkunft ein. Grund ist der Todestag des ältesten Sohnes und großen Bruders Junpei, der in den Erinnerungen der Eltern als strahlende Einlösung all ihrer Hoffnungen dasteht – eine Bürde, die Ryota, der Zweitgeborene, tragen muss. Das zeigt Kore-eda vor allem in Kleinigkeiten, wie »Still Walking« überhaupt ein Film der Details und Zwischentöne, ein Mosaik der scheinbaren Banalitäten ist: Die weniger bewundernswerten Anekdoten über Junpei werden Ryota zugeschrieben, während dessen Qualitäten als Junpeis Eigenschaften erinnert werden.

Die wechselnden interfamiliären Arrangements gruppiert der Film an einem hellen Sommertag in dunklem Haus um ein nicht enden wollendes Mahl, das – gerade durch die japanische Essweise mit Stäbchen – den Rhythmus des Films vorgibt. Beiläufig präpariert Kore-eda die Konflikte innerhalb der Familie heraus: So fokussiert die Kamera unaufdringlich Ryotas unsichere Frau, als von der Tätigkeit ihres Mannes die Rede ist, der nicht wie vom Vater gewünscht Mediziner geworden und derzeit arbeitslos ist, wovon die Eltern allerdings nichts erfahren sollen.

Der Stolz des Vaters schlägt um in Gehässigkeit und zeigt sich als verbittert andauernde Suche nach Bewunderung, die er nach der Pensionierung nur noch bei alten Nachbarinnen auf der Straße findet. Hinter der Gutherzigkeit der Mutter tarnt sich eine fast sadistische Grausamkeit, wenn sie vor versammelter Runde ein Liebeslied auflegen lässt, das dazu dient, dem Vater eine lang zurückliegende Affäre vorzuhalten. Während die Tochter sich auf unbedarfte Weise entzieht und etwa die Rezeptvorschläge der Mutter mit der Bemerkung kontert, ihr Mann esse sowieso alles und am liebsten Fast Food, bleibt Ryota, der stille Protagonist des Films, gefangen in den Herabsetzungen der Eltern, die ihn für einen Versager halten.

Wir sind nur Menschen – ist derart der Versuch der stillen Rebellion, weil der Satz einen Raum der Toleranz beansprucht, der im Elternhaus nicht zu haben ist. Er bezieht sich auf den dicken Jungen, dessen Rettung aus dem Meer Junpei einst mit seinem Leben bezahlt hat. Und den die Mutter nun jedes Jahr ebenfalls einlädt, um sich an seiner Unfähigkeit zu delektieren.

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