Kritik zu Roma
In seinem 70er-Jahre-Drama fängt Alfonso Cuarón mit fast schmerzlicher Schärfe das Lebensgefühl in einer »ganz normalen« bürgerlichen Familie im Mexico City jener Jahre ein. Bereits mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnet, werden dem Film als erster Netflix-Produktion Chancen auf den Oscar eingeräumt
Wer bei den einführenden Angaben zu Alfonso Cuaróns »Roma« – autobiografisch geprägt, schwarz-weiß, Mexico City in den 70ern – an Nostalgie denkt, an wehmütiges Erinnern, den stößt Cuarón gleich mit einer der ersten Einstellungen förmlich mit der Nase in den Dreck: Da wird nämlich, mit konzentrierter Sorgfalt, ein Hundehaufen weggemacht. Mit dem Eimer Wasser, der hier ausgeleert wird, den Geräuschen des schweren Besens, den die Hausangestellte Cleo (Yalitza Aparicio) verwendet, und dem Schachbrettmuster des gefliesten Innenhofs macht die Szene zugleich in sinnlicher Weise vertraut mit dem gutbürgerlichen Zuhause der Familie, die im Zentrum von »Roma« steht. Das Gebäude selbst wirkt etwas heruntergewirtschaftet; zu den ganz Reichen gehören Senor Antonio (Fernando Grediaga), ein Arzt, und seine Frau, Senora Teresa (Marina de Tavira), ebenfalls eine Akademikerin, die aber nicht mehr in ihrem Beruf arbeitet, nicht. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie gleich zwei Hausangestellte beschäftigen, drückt ihre Klassenzugehörigkeit deutlicher aus, als es jede Einrichtung könnte.
Dass sich das alles im Umbruch befindet, die Familie, ihre Stellung in der Gesellschaft, die Gesellschaft selbst, das alles drückt Cuarón in seinem Film in simplen und zugleich ungeheuer raffiniert gestalteten Szenen aus, zum Beispiel in der Szene des ersten abendlichen Heimkommens von Senor Antonio. Die Einfahrt ist zu eng für den breiten amerikanischen Schlitten, den der Arzt fährt. Auch das macht Cuarón in Kameraführung und Ton sinnlich erfahrbar. Noch bevor man den Fahrer sieht, wird das Auto gezeigt, das sich nur mit Anstoßen an beiden Seiten und entsprechenden Schleifspuren hineinmanövrieren lässt. Als er aussteigt, begrüßt ihn die versammelte Familie samt Hausangestellter fast in einer Art Aufstellung, die aber weniger zeremoniell wirkt, als dass sich in ihr eine gewisse Bedürftigkeit ausdrückt. Erst im Lauf des Films wird man begreifen, was es damit auf sich hat: Zum einen ist dieser Patriach tatsächlich im Begriff, die Familie zu verlassen. Zum anderen ist Mexiko-Stadt zu Beginn der 70er Jahre ein Ort der großen Unruhe und Konfrontationen. Die Hausangestellte Cleo entgeht in einer der späteren Szenen nur knapp dem Erschießungstod, als sie unmittelbar Zeugin des sogenannten »Corpus-Christi-Massakers« vom Sommer 1971 wird, bei dem eine Spezialeinsatztruppe mit Schusswaffen auf demonstrierende Studenten losging.
Mit »Roma« kehrt der Regisseur von »Children of Men« und »Gravity« erstmals nach seinem Durchbruchsfilm »Y tu mamá también« thematisch wieder in seine Heimat zurück. Der Titel übrigens bezieht sich auf den gleichnamigen Stadtteil von Mexico City. Als eine Hommage an das stille Wirken der Hausmädchen, die auch seine, Cuaróns, Kindheit in selten zugestandener Weise geprägt haben, will der Regisseur seinen Film verstanden wissen. Dicht an der Perspektive seiner indigenen Heldin lässt er Tage und Wochen mit den Alltagsverrichtungen des Hausmädchens Cleo vergehen. Sie putzt, macht die Wäsche, holt den Kleinsten von der Schule ab. Wenn sie abends mit vorm Fernseher sitzt, reicht sie nebenher noch Snacks und räumt das dreckige Geschirr weg.
Wie der »kleine« Alltag mit den großen Ereignissen manchmal mehr, manchmal weniger kollidiert, fängt Cuarón in langen Einstellungen und Fahrten ein, in denen die Kamera oft erst eine ganze Straße filmt und im Vordergrund eine Militärmusikkapelle vorbeiziehen lässt, während im Hintergrund das Hausmädchen auf ihrem Weg ins Kino ins Bild läuft. Cuarón gelingen auf diese Weise großartige Panoramen, die von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erzählen. Über den Regiekunststücken, in denen er durch lauter Details im Bild und auf der Tonspur die unsichere politische Lage im Land, das Elend der Landarbeiter und das Privatleben der Familie streift, droht ihm leider seine Heldin mitunter zum madonnenhaften Beispiel zu verkommen.
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