Kritik zu Primadonna – Das Mädchen von Morgen
Marta Savina beschäftigt sich in ihrem Spielfilmdebüt mit der jungen Sizilianerin Franca Viola und ihrer erstaunlichen Emanzipationsgeschichte
Das Zentrum dieses sizilianischen Familienlebens müsste eigentlich in der Küche liegen. Gemeinhin wird Entscheidendes ja bei Tisch besprochen. Aber die Crimi versammeln sich viel häufiger im Zimmer von Tochter Lia. Die Familie hat allen Grund, mit den Traditionen ihrer Heimat zu hadern.
Eingangs eignet dem kargen Raum noch die Geborgenheit eines Kinderzimmers. Die Kamera entdeckt Lia (Claudia Gusmano) regelmäßig im Moment des Erwachens. Aber bald wird die 21-Jährige hier keinen Schlaf mehr finden. Denn nichts ist mehr, wie es war, seit Lorenzo Musicò, der Sohn des hiesigen Mafiabosses, aus Deutschland zurückkehrte. Früher war Lia wohl in sein selbstgewisses Lächeln verliebt; jetzt macht er ihr ruppig den Hof. Zunächst liegt ein sachter Zauber über ihrer Wiederbegegnung, aber Lia zögert. Um seinem Anspruch auf sie Geltung zu verschaffen, entführt Lorenzo sie und ihren kleinen Bruder. Seine Kumpane schlagen die Mutter brutal nieder.
Eine solche »Liebesflucht« gehört 1966 noch fest zum sizilianischen Brauchtum, ebenso wie die unweigerlich folgende matrimonio riparatore, bei der die Ehre der Entführten »wiederhergestellt« wird. Lorenzo glaubt, die Crimi vor vollendete Tatsachen gestellt zu haben. Dank des umstrittenen Artikels 544 im italienischen Gesetzbuch könnte er auch das Recht auf seiner Seite haben. Bei der anberaumten Verlobungsfeier, die unter der Aufsicht des Priesters sowie des Polizeichefs stattfinden soll, weigert sich Lia jedoch, ihren Peiniger zu heiraten. Ihr Vater Pietro, ein stolzer, arbeitsamer Bauer, pflichtet ihr bei: Niemals wird er seine Tochter diesem Clan überlassen. Die Wunde auf der Stirn der Mutter ist noch nicht verheilt.
Den Carabinieri bleibt keine Wahl, als Lorenzo zu verhaften; ihm wird der Prozess wegen Menschenraubs und Vergewaltigung gemacht. Von nun an behandelt die Dorfgemeinschaft die Crimi wie Aussätzige. Der Priester verweigert ihnen den Zutritt zur Kirche. Die Behörden schauen tatenlos zu, als die Musicò ihre Ernte vernichten. Unterstützung erfährt die Familie nur von zwei weiteren Außenseitern: der Prostituierten Ines und dem homosexuellen Ex-Bürgermeister Orlando, der schließlich das Mandat übernimmt, Lia vor Gericht zu vertreten.
Marta Savina versenkt ihren Blick tief in die stickige Enge einer Gesellschaft, in der ein archaischer, patriarchaler Ehrbegriff herrscht. Der deutsche Beititel betont, dass ihre Heldin keine kapriziöse Diva ist, sondern eine Pionierin. Lia, der Claudia Gusmano ein einnehmend nachdenkliches Antlitz gibt, erträgt es nicht, dass andere für sie entscheiden. Dieses Recht gesteht sie auch dem Vater und der gottesfürchtigen Mutter nicht zu. Sie ist keine unerschütterliche, sondern verletzbare Kämpferin. Vor Gericht schweigt sie fahrlässig lang; die Anklage scheint ohnehin aussichtslos. Savinas wachsam realistischer Erzählgestus verleiht ihren Figuren eine moralische Eleganz, die auch Nuancen des Zweifels im vermeintlich unbezwingbaren Patriarchat offenbart. Artikel 544 jedoch wird erst 15 Jahre später aus dem Strafrecht gestrichen.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns