Kritik zu Nach dem Urteil
Nichts passiert zum ersten Mal: Der französische Schauspieler Xavier Legrand erzählt in seinem Spielfilmdebüt von häuslicher Gewalt, so vollendet nüchtern und distanziert, dass das Drama unmittelbar unter die Haut geht
Miriam, Antoine, Julien und Joséphine – Familie Besson gehört schon seit einer Weile der Geschichte an, als die Handlung von »Nach dem Urteil« mit einer Anhörung vor einer Richterin einsetzt. Nüchtern wird aus Akten verlesen, wird der Sachverhalt präsentiert, wird das Publikum über den Stand der Dinge informiert. Flankiert von ihren jeweiligen Anwältinnen, sitzen die Frau und der Mann nebeneinander und sind doch meilenweit voneinander entfernt. Miriam hat sich von dem gewalttätigen Antoine scheiden lassen und ist mit den Kindern – der fast erwachsenen Joséphine und dem etwa neunjährigen Julien, die beide den Vater nicht mehr sehen wollen – fortgezogen; Antoine bemüht sich nunmehr um Besuchsrecht. Er vermisst seine Kinder, seine Eltern vermissen ihre Enkel. Wie konnte es nur soweit kommen und, ach, wäre nur alles wieder so wie früher! Die Verbitterung, die zwischen den ehemaligen Eheleuten herrscht, ist bereits in der Anfangssequenz des Films deutlich spürbar. Allein schon mit ihrer Körperhaltung bezeugen die versteinerte Mutter und der beleidigte Vater, dass es zwischen ihnen eigentlich nichts mehr zu retten gibt. Aber warum sollen die Kinder darunter leiden? Ein Sohn braucht seinen Papa. Jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. Wer sagt, dass dieser Mann es mit seiner Reue nicht ehrlich meint? Und: man sollte doch wenigstens zivilisiert miteinander umgehen können.
So zieht es einen also hinein in die Geschichte eines Verhängnisses und das nach eigenem Drehbuch inszenierte Spielfilmdebüt des französischen Schauspielers Xavier Legrand. Legrand greift mit »Nach dem Urteil« seinen 2013 entstandenen, vielfach – unter anderem mit einem César und einer Oscarnominierung – ausgezeichneten Kurzfilm »Avant que de tout perdre« auf, in dem bereits Léa Drucker und Denis Ménochet in den Rollen von Miriam und Antoine agierten. Das alltägliche Drama häuslicher Gewalt, das sich in »Nach dem Urteil«, der vergangenes Jahr beim Festival in Venedig den Preis für die Beste Regie erhielt, zu entfalten beginnt, hat also eine lange, schmerzliche Vorgeschichte. Diese macht sich in Gestalt verhängnisvoller Routinen bemerkbar. Nichts passiert hier zum ersten Mal, weder die Übergriffigkeit des Vaters, noch das Stillhalten von Mutter und Sohn; die Schwächeren suchen Zuflucht im vergeblichen Versuch, sich unsichtbar zu machen, um auf diese Weise der Aufmerksamkeit und Aggression des Stärkeren zu entgehen, schließlich wird das Eingreifen der Autoritäten notwendig.
Es sind sattsam bekannte Mechanismen, die da wirken, und die Legrand aus dem zunehmend eskalierenden Familiendrama vermittels seiner neutralen Beobachterperspektive förmlich heraus präpariert. So, als sähe man die verheerenden Wechselwirkungen von Angst, Wut, Ohnmacht und Enttäuschung unter einem Mikroskop. Ein ebenso grausames wie spannendes Schauspiel, schallgedämpft, skelettiert und anti-hysterisch, dessen entschleunigte Unausweichlichkeit direkt unter die Haut geht.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns