Kritik zu Milk

© Constantin Film

2008
Original-Titel: 
Milk
Filmstart in Deutschland: 
19.02.2009
L: 
127 Min
FSK: 
12

Gus Van Sant kehrt mit seinem Biopic über Harvey Milk zu einer konventionelleren Erzählweise zurück. Umso besser für seinen überragenden Hauptdarsteller Sean Penn, der alle Register zieht

Bewertung: 5
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In der Maske wurde seine Nase verlängert, um den Charakterkopf von Sean Penn schmaler erscheinen zu lassen. Ein Nebeneffekt: auch das Durchschnittsgesicht des Versicherungsangestellten Harvey Milk kommt so besser zur Geltung. Korrekt, in Anzug und Krawatte, kommt er am Vorabend seines 40. Geburtstags aus seinem Büro an der Wall Street und spricht auf der Treppe zur U-Bahn den jungen Mann mit dem blonden Lockenkopf an, als seien sie alte Bekannte. Als sie zusammen losziehen, fragt er: »Wie heißt du?« Und man ist zum ersten Mal verblüfft.

Gus Van Sant geht mit seinem Film sofort in medias res. Er wirft einen vielsagenden Blick auf die intime Geburtstagsfeier à deux sowie Harveys Vorliebe für Sahnehäubchen oder ganze Sahnetorten im Gesicht, um – mit einem Zeitsprung – in die kurze Geschichte des zweiten Lebens von Harvey Milk (1930– 1978) einzusteigen. Zwei Jahre später – 1972 – sind die beiden (jetzt im Hippielook) schon in San Francisco und eröffnen gerade ihren Laden »Castro Camera« in der Castro Street, die durch Harvey Milk Legende werden sollte. Milk ist entschlossen, seine Erkenntnis »I am forty and I haven't done a thing!« in zunächst erstaunliche, später geradezu revolutionäre Taten umzusetzen.

Das zweite Leben des Harvey Milk ist erstens: eine wunderbare Liebesgeschichte mit der New Yorker Zufallsbekanntschaft Scott Smith (James Franco), zweitens: die Wandlung eines Niemand zu einer charismatischen Führerfigur der Schwulenbewegung. Darin liegt der unschlagbare Vorteil des Spielfilms – auch gegenüber dem oscargekrönten Dokumentarfilm The Times of Harvey Milk von Rob Epstein (1984) –, dass er das private und das öffentliche Leben parallel entwickeln kann und auf diese Weise überzeugend die Behauptung »Das Private ist politisch!« zu bebildern weiß. Dass sich der bescheidene Laden in der Castro Street binnen kurzem zu einem amerikaweit bekannten Schwulentreffpunkt entwickeln sollte, verdankt sich allein dem Mut und der umtriebigen Art, wie Harvey und sein Freund Scott in einer überwiegend schwulenfeindlichen Umgebung ihre Existenz behaupten. Der stets mitreißend charmante und gut gelaunte Milk nannte sich bald »Bürgermeister von Castro Street«, organisierte einen Boykott gegen die Brauerei Coors und kandidierte 1973 zum ersten Mal für den Stadtrat, nachdem er schon erste Berater um sich geschart hatte. Nach weiteren Anläufen wird er schließlich im Januar 1978 als erster bekennender Homosexueller zum Abgeordneten für den fünften Distrikt in den Stadtrat von San Francisco gewählt. Dort wird er sich den früheren Polizisten Dan White zum Feind machen, der gleichzeitig mit Milk sein Amt antritt. White erschießt Harvey Milk und den Bürgermeister George Moscone am 27. November 1978 in deren Amtszimmer im Rathaus von San Francisco. Ein Schweigemarsch von 30.000 Menschen zieht noch in derselben Nacht durch die Stadt.

Die Geschichte des Harvey Milk ist eine amerikanische Heldengeschichte mit amerikanischem Ausgang. Doch fehlt dem Film jegliche triumphierende Geste, jegliches Pathos. Nicht einmal der Trauerzug – wiewohl spätestens dann die Tränen fließen – schwillt zu einer großen Klage an. Tuntenhafte Exzesse fehlen völlig. Gus Van Sant hat sicher nicht ohne Absicht einen Film über einen Jedermann gedreht, der für seine Bürgerrechte kämpft. Diese haben auch Milk und sein Team von Anfang an auf ihre Fahnen geschrieben, und es ist dem wahren Harvey Milk zu verdanken, dass hier nur Regenbogenfahnen (die ersten) geschwungen werden und unermüdliche Diskussionen – gegen »Proposition 6« – geführt werden, der Gesetzesvorlage, die Homosexuelle generell aus dem Schuldienst entfernen wollte. Oder die zahllosen Anrufe, die Milk von überall her erreichten, Milk als einen, der es verstand, wieder Hoffnung zu spenden, ja, Leben zu retten.

»My name is Harvey Milk and I want to recruit you!« – so trat er auf und hielt der Menge sein unwiderstehliches Lächeln entgegen. Und Sean Penn, der Exzentriker, wird zu Harvey Milk, dem extrovertierten, aber sanftmütigen und durchsetzungsfähigen Vordenker einer neuen Zeit. Der Film wurde bei Filmstart in den US-Zeitungen zum ersten »Obama-Movie« gekrönt.

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