Kritik zu Loveless
Nach »Leviathan« ist auch das neue Werk des russischen Regisseurs Andrey Zvyagintsev für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert: ein Familiendrama, das zugleich vernichtende Gesellschaftsparabel ist
Zhenya und Boris giften sich an, aus jedem Satz klingt Verachtung. Sachlich sind lediglich die Überlegungen, wo nach ihrer Trennung der zwölfjährige Alyosha bleiben soll. Keiner von beiden will ihn zu sich nehmen. Also bleibt ein Internat, da lernt er schon mal Disziplin, denn »er muss ja sowieso bald zur Armee«. Irgendwann geht Zhenya auf die Toilette, dann zurück in die Küche. Der Blick der Kamera bleibt hinter der Tür hängen, wo im Halbdunkel das Kind steht, mit vor Verzweiflung verzerrtem Gesicht, ein stummer Schrei.
»Loveless« zeigt nur in wenigen Momenten so deutlich die Gefühle seiner Protagonisten, und jedes Mal tut sich ein Abgrund an Schmerz auf. Die meiste Zeit aber wirken die Menschen wie betäubt, nur mit sich beschäftigt und wie von den Smartphones hypnotisiert, auf die sie ständig starren. Die Inszenierung ist von einer nachdenklichen Ruhe geprägt, die immer wieder etwas suggestiv Bedrohliches ausstrahlt. Schon die ersten Bilder von einer innerstädtischen Flusslandschaft mit Bäumen im Schnee, menschenleer, mit düsteren Streichern untermalt, lassen Böses erahnen.
In seiner ersten Hälfte beleuchtet der Film die Endphase der Ehe von Boris und Zhenya. Beide haben schon neue Beziehungen begonnen, Zhenya mit einem reichen Unternehmer, Boris mit einer jüngeren Frau, die schwanger von ihm ist. Seine Sorge ist allerdings, dass ihm die Scheidung Probleme bei seiner Arbeit verursacht, denn sein Chef ist streng orthodox. In der Kantine eines modernen Betriebs mit zahlreichen Mitarbeitern wirken diese Befürchtungen befremdlich. Zvyagintsev streut solche Irritationen jedoch gezielt ein und bespielt so neben dem Familiendrama immer auch eine weitere Erzählebene: das Porträt einer Gesellschaft, die sich in einer Wertekrise zwischen krassem Materialismus und rückwärtsgewandter Religiosität befindet.
Dann, plötzlich, verschwindet Alyosha. Aus seinem Umfeld und zugleich aus dem Film, was als emotionale Lücke in der Erzählung schmerzhaft spürbar wird. Die zweite Hälfte von »Loveless« erzählt, mit Anklängen an einen Thriller, von der Suche nach dem Jungen, von der erschreckenden Ignoranz der Polizei und der wachsenden Verzweiflung der Eltern, die ein letztes Mal gefordert sind, als Team zusammenzuwirken. Unterstützung erhalten sie von einem freiwilligen Such- und Rettungsdienst. Insbesondere dessen Leiter, der ohne Bezahlung und so umtriebig wie nüchtern alles daran setzt, den Jungen zu finden, wird zum einzigen positiven Gegenpol zur sonst herrschenden Gleichgültigkeit. Der Pessimismus und die umfassende Tristesse des Films wären sonst kaum zu ertragen. Man könnte Zvyagintsev durchaus vorwerfen, er gebe den Zuständen in Russland einen unangemessen apokalyptischen Touch. Immerhin, und das wirkt beinah wie ein ironisches Zwinkern, lässt er den Weltuntergang (beziehungsweise seine Ankündigung im Kalender der Maya) ganz beiläufig in einer Radiosendung besprechen.
Und bei aller Parabelhaftigkeit findet Zvyagintsev eine sehr reizvolle Balance zwischen Realismus und Metaphorik. Gespenstische Suggestivkraft erlangen beispielsweise die Szenen, in denen die Helfer in einem weitläufigen Gebäudekomplex aus der Sowjetzeit nach Alyosha suchen. Die Konferenzsäle, Sporthallen und Heizungskeller, verlassen und aus der Zeit gefallen, so geheimnisvoll wie trostlos, könnten genauso in der verbotenen Zone von Tarkovskis »Stalker« liegen.
Zugleich wirken Zvyagintsevs Figuren lebensnah und glaubwürdig, auch in ihren Extremen. Etwa Zhenya: So kalt, selbstgerecht und oberflächenfixiert sie agiert, so traurig menschlich erscheint sie in einigen Szenen. Wenn die Suche nach dem Jungen sie zu ihrer eigenen Mutter führt, wird zudem verständlich, woher sie ihre Härte hat. In der Darstellung von Beziehungen – der kaputten Ehe von Zhenya und Boris wie auch ihrer neuen Liebschaften – erweist sich »Loveless« zudem als zutiefst melancholische Reflexion über die Vergänglichkeit von Gefühlen. Ein Zeitsprung am Ende des Films zeigt: Auch diese neuen Lieben verlieren schrecklich schnell ihren Glanz.
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