Kritik zu La Danse – Das Ballett der Pariser Oper
Tanz ist Arbeit; bei der Tanzarbeit zuzuschauen auch: Frederick Wiseman zeigt den Alltag im Palais Garnier in Paris als multifunktionialen Kulturbetrieb
In den letzten Jahren muss sich der amerikanische Dokumentarfilmer Frederick Wiseman seine Arbeiten verstärkt vom Fernsehen finanzieren lassen. Das Fernsehen verfügt anscheinend noch über Nischen, die ihm das Kino nicht mehr bietet. Somit läuft Wiseman Gefahr, zu einer bedrohten Spezies zu werden, auch wenn er weiterhin regelmäßig einen Film pro Jahr produziert. Seine inzwischen 38. Dokumentation war ursprünglich eine Auftragsarbeit für das Ballett der Pariser Oper, was womöglich auch erklärt, warum er sich nach »Ballet« von 1995 (über das American Ballet Theatre) diesem Thema zum zweiten Mal widmet. Wiseman vermeidet es grundsätzlich, sich zu wiederholen.
Und »La Danse« ist einer von Wisemans bislang schönsten Filmen, nicht zuletzt weil im Metier »Tanz« sein Gespür für Rhythmus und Timing besonders zur Geltung kommt. Mit knapp zweieinhalb Stunden Länge (für Wiseman guter Durchschnitt) nimmt er sich dann auch reichlich Zeit, die verschiedenen Aspekte eines der weltweit angesehensten Ballettensembles zu hinterleuchten. Zeit ist für Wisemans Arbeitsweise ein entscheidender Faktor. Über Ballet hat er einmal gesagt, dass man bei einem 90-Minuten-Film jegliches Gefühl für den repetitiven Charakter des Balletttrainings und die Ausdauer, die es erfordert, verliere. Mit »La Danse« macht er noch einmal deutlich, dass Zeit die wichtigste Ressource des Direct Cinema ist.
Wisemans Modus des Beobachtens bietet sich für die Arbeit eines Tanzensembles geradezu an. Ungeachtet seiner Binnendramaturgie und Erzählökonomie gleicht der Film einem Streifzug durch die verschiedenen Abteilungen und Flügel der Oper. »La Danse« erschließt die Arbeit und den Raum gleichermaßen. Kontemplation ist dabei ebenso Aspekt dieser Arbeitsweise wie das Abschweifen (einmal führt ihn seine Suche über die Dächer von Paris, wo ein Imker gerade Honig erntet). Dass er sich vornehmlich auf die Proben konzentriert, verdeutlicht sein Interesse an Prozessen. Dieser Work-in-progress ähnelt der Struktur seiner eigenen Filme, die allesamt von einer unerschöpflichen Neugier vorangetrieben werden.
In »La Danse« hat er allerdings auch einen großartigen Fixpunkt gefunden: Brigitte Lefèvre – Direktorin, künstlerische Leiterin und Vertrauensperson in einem – steht immer wieder im Mittelpunkt von Wisemans Kamera, wenn sie im vertraulichen Gespräch einen Gastchoreographen einführt, sich die Sorgen des Ballettnachwuchses anhört oder vor versammelter Belegschaft die Wichtigkeit des Pensionsfonds erläutert und im selben Atemzug nachdrücklich auf die Tradition und künstlerische Bedeutung des Hauses verweist. Lefèvre ist gewissermaßen der Schlüssel zu Wisemans Film, der nicht nur die Eintönigkeit hinter den Kulissen dokumentiert, sondern am Rande auch zeigt, mit welchen finanziellen Bürden selbst hochsubventionierte Kulturbetriebe wie die Pariser Oper heutzutage zu operieren gezwungen sind. Lefèvre ist eine beeindruckende Persönlichkeit: professionell und effizient, gleichzeitig mit einer untrüglichen sozialen Intelligenz ausgestattet. Man kann leicht nachvollziehen, was Wiseman an ihr so fasziniert hat.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns