Kritik zu Kleine schmutzige Briefe
Nach einem wahren Fall erzählt die britische Theater- und Filmregisseurin Thea Sharrock ein Emanzipationskostümdrama aus einer Vergangenheit, die so fern dann doch nicht scheinen mag
Es begab sich also zu der Zeit, als im nahegelegenen London die Suffragetten auf die Barrikaden gingen, um das allgemeine Wahlrecht für Frauen zu erkämpfen, dass in einem malerischen Küstenörtchen namens Littlehampton, Sussex, Briefe geschrieben wurden. Anonyme Briefe! Briefe eines Inhalts, der jeden guten Christenmenschen bis in die Tiefe erröten und nach dem Fläschchen Riechsalz greifen lässt! Briefe von solcher Schamlosigkeit und derart unflätigem Sprachgebrauch, dass . . . die wohlgeordnete Welt im Vereinigten Königreich der 1920er Jahre, bekanntermaßen eine von Sittsamkeit oder doch wenigstens guter Umgangsformen, glatt untergehen würde. Wäre eben diese Welt nicht zugleich auch eine der Doppelmoral und des Standesdünkels sowie der Sensationsgier. Beziehungsweise der Lust auf einen gewissen Kitzel an jener Stelle, an der man – frau erst recht nicht – sich nicht kratzen darf, jedenfalls nicht in aller Öffentlichkeit. Also wird, wann immer die Gelegenheit sich bietet, aus den Briefen zitiert und sich entrüstet.
Unschwer zu erkennen: Im Mittelpunkt von Thea Sharrocks auf einem tatsächlichen Skandal der 1920er Jahre beruhender schwarzer Komödie »Schmutzige kleine Briefe« steht das Verdrängte. Das Verdrängte ist im vorliegenden Fall das, was den Frauen nicht erlaubt ist. Wenn das dann, wie es nun mal des Verdrängten Art ist, an die Oberfläche dringt, ist richtig was los. Die guten Leutchen von Littlehampton können ein Lied davon singen.
Zunächst treffen die Briefe lediglich bei Jungfer Edith Swan ein; als Älteste von elf Geschwistern übrig geblieben, lebt sie im Haushalt der alten Eltern, den Vater Edward mit dem eisernen Griff des unbestrittenen Patriarchen führt. Natürlich ist es dem Alten ein Dorn im Auge, dass seine Edith sich mit Nachbarin Rose Gooding anfreundet, einer lebenslustigen Irin (ausgerechnet) mit Kind und ohne Mann. Dass Rose die Briefschreiberin ist, liegt für die alsbald antretenden und bis auf eine Ausnahme männlichen Vertreter der Staatsgewalt ebenso auf der Hand, wie den Zuschauerinnen und – so ihr offizieller Titel – »Female Police Officer« Gladys Moss klar ist, dass sie es nicht ist. Wer sich da in Tourette-artigen Invektiv-Schwällen erleichtert, wird hier natürlich nicht verraten, auch wenn es meilenweit vorherzusehen ist.
Die eigentliche Frage lautet ohnehin: Was will uns diese alte Geschichte heute bedeuten? Erinnert sie uns daran, wie eingeschränkt der Radius einer Frau vor gerade mal hundert Jahren noch war? »Female Police Officer« Moss beispielsweise ist es nicht gestattet zu heiraten, womit ihr auch das Kinderkriegen verwehrt ist. Oder erinnert sie uns vielmehr daran, dass Klassenunterschiede und Geschlechterdiskriminierung alles andere als Geister der Vergangenheit sind? Wer keine Lust auf dergleichen emanzipatorische Reflexionen hat, kann sich an der exzellenten Schauspielerei von Olivia Coleman, Timothy Spall und Jessie Buckley schadlos halten beziehungsweise erfreuen.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns