Kritik zu Human Flow
Der Künstler Ai Weiwei trägt Fakten, Zahlen, Zitate und Bilder zusammen zu einem Film, der keine neuen Informationen bieten, sondern die Flüchtlingskrise zugleich in ihrer Totalität und als Drama der Einzelnen darstellen will
Wenn einer der berühmtesten Künstler der Gegenwart einen Dokumentarfilm dreht über eines der am heißesten debattierten Themen der Zeit – dann wird ihm schnell unterstellt, er tue dies nur aus Effekthascherei. Der Chinese Ai Weiwei, der in seiner Heimat Haft und Verfolgung erduldet hat und erst 2015 China verlassen durfte, hat seine neu gewonnenen Freiheiten genutzt. Nicht nur, um an der Berliner Universität der Künste als Gastprofessor zu lehren, sondern auch, um in nicht weniger als 23 Ländern in Augenschein zu nehmen, was hinter den Schlagzeilen unsichtbar zu werden droht: das menschliche Antlitz der globalen Flüchtlingskrise. Die so entstandenen Aufnahmen hat Ai Weiwei nun zu einem Dokumentarfilm zusammengestellt, der sich tatsächlich abhebt von der Welle an Problemfilmen und Nachrichtengeschichten, die es bereits zum Thema gibt. Aber keineswegs durch Effekthascherei.
»Human Flow« funktioniert anders als die üblichen Dokumentarfilme. So kennt man die Bilder der Zelt- und Containerstädte, der überquellenden Boote, der vor Kälte zitternden Ankömmlinge in ihren glitzernden Wärmefolien. Die Aufnahmen, die Ai Weiwei und sein 200-köpfiges Team in Griechenland, Frankreich, Deutschland, Bangladesh, der Türkei und weiteren 18 Ländern machten, besitzen für sich genommen keinen neuen Nachrichtenwert. Dennoch ist der Akzent anders, den der chinesische Künstler bei der Auswahl und Montage setzt: Über 140 Minuten Laufzeit wird deutlich, dass es ihm darum geht, das Phänomen der globalen Flüchtlingskrise in ihrer Totalität zu erfassen – ohne hinter all den Zahlen und Statistiken vergessen zu machen, dass es um menschliche Schicksale geht.
Der Film funktioniert eher als Installation denn als Information. Ai Weiwei collagiert Material aus verschiedenen Richtungen. Die Bilder wechseln zwischen Drohnenaufnahmen, die aus der Luftperspektive die Größe und Monumentalität des Geschehens unterstreichen, und Interviewpassagen und Beobachtungen vor Ort. Manchmal ist Ai Weiwei selbst im Bild zu sehen, mit seinem Handy filmend oder ein Gespräch beginnend. Während die Szenen von Land zu Land springen, erscheinen Zitate von Poeten und Politikern auf der Leinwand. Und zwischendurch immer wieder Fakten und Zahlen: 65 Millionen Flüchtende weltweit, so viel wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. 5 000 Ertrunkene im Mittelmeer allein 2015. Oder auch: wo vor dem Fall der Mauer elf Länder ihre Grenzen mit Stacheldraht und Mauer schützten, sind es nun über 70. Den erschlagenden Fakten setzt Ai Weiwei das beschreibende Detail gegenüber: die Tasse Tee, mit der die Bootsflüchtlinge auf der Insel Lesbos aufgenommen werden. Die Langeweile, über die sich das junge Mädchen im Tempelhofer Hangar in Berlin beklagt. Und immer wieder die orangenen Rettungsjacken. Das Schlussbild zeigt Tausende davon, wie sie als Berge zurückbleiben, während die Drohnenkamera in die Lüfte steigt. »Human Flow« ist kein Film, der Lösungen anbietet oder für ein Ziel agitiert – es sei denn dafür, trotz der Größe des Problems auf die Humanität der Einzelnen zu bestehen. Und Empathie zu bewahren.
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