Kritik zu Helden der Wahrscheinlichkeit
Der dänische Regisseur Anders Thomas Jensen hat seine Family wieder versammelt. Allen voran Mads Mikkelsen als Berufssoldat, der seine Frau bei einem Zugunglück verliert. Aber vielleicht war es kein Unfall. Nikolaj Lie Kaas, Nicolas Bro und Lars Brygmann ermitteln
Anders Thomas Jensens testet in seinen Drehbüchern und Regiearbeiten immer wieder die Wirkung absurder oder schicksalhafter Zufälle aus. In seinem neuesten Film, den der deutsche Verleih mit dem schönen Titel »Helden der Wahrscheinlichkeit« ausgestattet hat, beginnt es damit, dass das Fahrrad von Mathilde (Andrea Heick Gadeberg) geklaut wird, weshalb ihre Mutter sie in die Schule fahren will, was aber nicht klappt, weil das Auto nicht anspringt. Und dann ruft auch noch der Vater (Mads Mikkelsen), ein Berufssoldat, an und kündigt an, dass er weitere drei Monate am fernen Kriegsschauplatz bleiben wird. Also beschließt die Mutter, dass heute geschwänzt wird. Shoppen statt Schule. Und dann gibt es noch den Mann, der ihr in der Bahn seinen Platz anbietet. Am vorläufigen Ende dieser Kette von Ereignissen stehen eine heftige Explosion im Tunnel und die Mutter als eines von vielen Todesopfern.
Im verzweifelten Versuch, sich einen Reim auf das Chaos ihres Lebens zu machen, wird Mathilde später all diese Vorgänge auf Zettel schreiben und als Diagramm an die Wand ihres Jugendzimmers heften. Wo genau wurden die Weichen für diese Tragödie gestellt? Wen trifft eine Schuld? Natürlich sperrt sich das unordentliche Leben gegen derartige Logik.
Auch Otto (Nikolaj Lie Kaas) hadert mit seinem Anteil an der Schuld, schließlich würde die Frau noch leben, wenn er ihr im Zug nicht seinen Platz überlassen hätte. Als Wahrscheinlichkeitsmathematiker vertraut er auf die Kraft von Zahlen und Statistiken. Dass im selben Zug auch ein wichtiger Kronzeuge im Prozess gegen die Biker-Gang »Riders of Justice« samt Anwalt umgekommen ist, kann rein rechnerisch kein Zufall sein. Und da die Polizei seinen aberwitzig klingenden Berechnungen partout nicht nachgehen will, steht er eines Tages zusammen mit seinem Kumpel Lennart (Lars Brygman) und dem Hacker Emmenthaler (Nicolas Bro) vor der Haustür von Mathilde und ihrem Vater: »Sie sollten wissen, der Tod Ihrer Frau, das war kein Unfall!«
Zufall, Schicksal, Schuld, Rache: Jeder reagiert anders auf Verlust und Trauer, und Anders Thomas Jensen spielt verschiedene Varianten mit dem bewährten Personal seiner Filme durch, allen voran Mads Mikkelsen, der seine Gefühle als Mathildes Vater Markus hinter grimmiger Miene und weißmeliertem Bart unter Verschluss hält und nur wohldosiert durchschimmern lässt. Nikolaj Lie Kaas, Nicolas Bro und Lars Brygmann (ein Neuzugang im Andersen-Universum) liefern ihm die Möglichkeit, seinen Schmerz militärisch auszutragen, im Krieg gegen die Riders of Justice, die seine Frau zum Kollateralschaden eines Anschlags gemacht haben. Sein geräumiger Schuppen wird zum Basiscamp eines wüsten Rachefeldzugs, in dem der irre Bodycount des Ein-Mann-sieht-rot-Genres auf liebenswert naive Amateurhaftigkeit trifft, die gewalttätige Präzision eines Profikillers auf die lebensfremde Tolpatschigkeit der Zahlenjongleure.
Mehr als in seinen Drehbüchern für andere Regisseur:innen pfeift Jensen in seinen eigenen Filmen auf »Political Correctness«. Wie schon in seinen früheren Filmen »Blinkende Lichter«, »Dänische Delikatessen«, »Adams Äpfel« und »Men & Chicken« setzt er auch hier eine Dynamik in Gang, in der sich mit absurder Logik und steigendem Tempo eins aus dem anderen ergibt. Der Trick ist, gegenläufige Kräfte ins Rennen zu schicken: Während Markus für die Zielstrebigkeit der Unternehmung sorgt, sind die anderen Mitglieder der anachronistischen Kampftruppe eher für den Sand zuständig, der das Getriebe der Schnitzeljagd immer wieder zum Stottern bringt und für immer neue unerwartete Wendungen sorgt. Am Ende summieren sich viele Missgeschicke zum guten Ausgang, und lauter ziemlich lebensuntüchtige Individuen wachsen zur skurrilen Ersatzfamilie zusammen.
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