Kritik zu Men & Chicken
Anders Thomas Jensen (»Adams Äpfel«) ist der dänische Spezialist für tiefschwarzen Humor. In seinem neuen Film spielt Mads Mikkelsen einen simplen Tor, der schreckliche Familiengeheimnisse entdecken muss
Der erste Blick auf den simpel gestrickten Elias ist gewöhnungsbedürftig: Mit schluffiger Haltung und treudoofem Blick, mit Lockenschopf und einem Schnauzer, der eine riesige Hasenscharte nur notdürftig kaschiert, ist es schwer zu glauben, dass sich dahinter derselbe Schauspieler verbirgt, der auch den entschlossenen Bond-Bösewicht Le Chiffre gespielt hat, Mads Mikkelsen, der längst ein internationaler Star ist und trotzdem noch immer zur Stammbesetzung der skurrilen, dänischen Filme von Anders Thomas Jensen gehört.
In harschem Kontrast dazu spielt er hier einen Jungen im Körper eines Mannes, dessen Tagesablauf durch regelmäßige Masturbation getaktet ist. Gerade ist sein Vater gestorben; im Nachlass befindet sich ein Videotape, auf dem der Verstorbene seinen beiden Söhnen eröffnet, dass ihr leiblicher Vater auf der abgeschiedenen dänischen Insel Ork lebt. So machen sich die beiden ungleichen Brüder auf den Weg, mitten hinein in eine jener aus der Zeit gefallenen Welten, die Jensen von Blinkende Lichter über Dänische Delikatessen und Adams Äpfel bis Men & Chicken in jedem seiner Filme erschafft. Eine Welt, in der die Regeln der bürgerlichen Zivilisation ausgehebelt sind, in der die sittliche Verwahrlosung nicht nur bizarre Verbrechen, sondern auch Perversitäten wie Kannibalismus oder Sodomie hervorbringt. Doch so wie sich der Blick langsam an die Dunkelheit gewöhnt, passt sich auch der Zuschauer sukzessive an die herrschenden Verhältnisse an, jedenfalls bis zum nächsten Schock.
Bei der Ankunft auf dem verwahrlosten Familienanwesen werden Elias und Gabriel von ihren drei Halbbrüdern, deren Hasenscharten deutliche Verwandtschaftsverhältnisse verraten, mit einer von keinerlei moralischen Bedenken gebremsten Feindseligkeit empfangen. Schauspieler wie David Dencik, Nikolaj Lie Kaas, Nicolas Bro und Søren Malling, die derzeit ausgehend von skandinavischen Krimiserien ins internationale Kino schwärmen, werfen sich da lustvoll in die Abgründe der condition humaine. Wenn es an die Verteidigung ihres Reviers geht, ist die Devise »nicht fragen, sondern losschlagen«, und zwar mit allem, was zur Hand ist, von ausgestopften Tieren über Blecheimer bis zu Holzlatten. So beginnt ein sperriger Annäherungsprozess, in dessen Verlauf sich hinter verschlossenen Türen und in Kellergruften des malerisch verwahrlosten Anwesens nach und nach das ganze Ausmaß der abgründigen Familiengeschichte entblättert.
Drehort war ein verfallenes Lungensanatorium in Beelitz-Heilstätten, durch das noch die Geister vergangener Verbrechen im Dienste der Medizin spuken. Die weitläufigen Zimmerfluchten werden von der degenerierten Familie zu Ställen für Hühner, Schweine und einen Zuchtbullen umfunktioniert. Und die ganze Atmosphäre ist trunken von der Patina vergangener Zeiten, mit blätternder Farbe, öligen Tapeten und rostigen Haushaltswaren, ein Fest für die Ausstattungsabteilung um Mia Stensgaard. Doch im Kern all dieses abgefahrenen Irrsinns steckt die Erkenntnis, dass allen Widrigkeiten zum Trotz Blut allemal dicker ist als Wasser.
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