Kritik zu Harvest

englisch © The Match Factory

Der neue Film der griechischen Regisseurin Athina Rachel Tsangari (»Attenberg«) ist eine Parabel über die Anfänge des modernen Kapitalismus 

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Walter Thirsk (Caleb Landry Jones) ist ein komischer Kauz, der nirgendwo richtig dazugehört, selbst in dieser weltabgewandten Kommune von Außenseitern in den schottischen Highlands. Er kann Stunden damit verbringen, alleine durch Getreidefelder zu streunen und die Natur zu schmecken, ob an einer moosbewachsenen Baumrinde lutschend oder einem Astloch, in das er seine Zunge steckt. Aus der Stadt ist er in das entlegene Dorf gezogen, um sich ein neues Leben als Bauer aufzubauen, eher am Rande als wirklicher Teil der Gemeinschaft, die hier nach alten Traditionen lebt. Alles, was sie benötigen, erwirtschaften sie mit Ackerbau, Viehzucht und Handarbeit selbst. Das Dasein ist hart, aber selbstbestimmt. Beim Verrichten des Tagwerks werden gern kollektiv Volkslieder gesungen.

Dann brennt eine Scheune. Schnell wird Brandstiftung von Fremden vermutet. Und die Idylle erfährt einen ersten Riss. Bald kommt ein Kartenzeichner ins Dorf, die Ländereien zu vermessen. Damit setzt der allmähliche Verfall der Kommune ein, die ihre vertraute Lebensform plötzlich durch den neuen Eigentümer und dessen Profitdenken gefährdet sieht und dabei erstaunlich schnell einen Hass gegen alles Fremde entwickelt. Drei Geflüchtete tauchen auf, die von der Dorfgemeinschaft an den Pranger gestellt werden.

Wo und wann die Gesellschaftsparabel der griechischen Regisseurin Athina Rachel Tsangari (»Attenberg«, »Chevalier«) genau spielt, ist nicht klar, die Geschichte dieses Umbruchs soll universell sein. Ist es die Ursünde, der Schwellenmoment, in dem der Prozess der Naturzerstörung begann, dessen finalem Kapitel die Menschheit gerade entgegensteuert? Womöglich befinden wir uns im spätmittelalterlichen Britannien, doch sind die Kostüme keiner Epoche zuzuordnen, die Strickmützen und Brillengestelle könnten auch von einer Hippiekommune oder Retro-Hipster-Clique der Gegenwart stammen. »Harvest« hat dabei etwas sehr Haptisches, Dreck und Schweiß sind förmlich spürbar, wie die Bilder selbst, von DoP Sean Williams auf analogem Filmmaterial explizit körnig und in ausgewaschener Farbpalette gedreht.

Tsangaris Film basiert auf dem Roman von Jim Crace aus dem Jahr 2013, für den Booker Prize nominiert und bislang unübersetzt. Es ist eine dezidiert antimoderne Versuchsanordnung. Die Zukunft ist ungewiss, der Wandel und das Neue machen Angst, lösen Abwehrreaktionen aus. Helden gibt es in dieser dem Untergang geweihten Welt keine, angesichts des aufkeimenden Kapitalismus sehen sie nur die Wahl zwischen Widerstand und Kapitulation, Flucht und xenophobem Separatismus. Am Ende bleiben nur Verwüstung und Desillusion als Vorboten unserer Gegenwart. Tsangari zeichnet diese historische Dystopie mit Gusto und absurdem Humor, eine immer wieder faszinierend rätselhafte Allegorie, die in ihrem Waten im Morast der Moral und ihrem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf Dauern jedoch etwas ermüdet.

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