Kritik zu Ein Leben
Als tauche man ins Bewusstsein, in die Erinnerungen eines Menschen des 19. Jahrhunderts ein: Stéphane Brizé findet für seine Maupassant-Verfilmung so eigenwillige wie eindrucksvolle ästhetische Mittel
Mehr als zwei Jahrzehnte umfasst die Geschichte der Landadeligen Jeanne, die zu Beginn im Jahr 1819 mit ihren Eltern auf dem Familienlandsitz in der Normandie lebt. Was sich bei Maupassant als chronologische Abfolge von Ereignissen entfaltet, wird in den Händen von Stéphane Brizé und seines Kameramannes Antoine Héberlé zu einem radikalen, sehr modern wirkenden Stück Kino.
Das beginnt mit der Entscheidung, den Film nicht in Breitwand, sondern im fast quadratischen Academy-Format zu drehen. Zudem sprengt Brizé die Erzählstruktur auf, verwandelt die Chronologie in einen filmischen Bewusstseinsstrom, in eine Szenenfolge von teils noch in sich verschachtelten Rückblenden, geprägt vom Wechsel der Jahreszeiten zwischen Apfelblüte und Herbststürmen an der Küste der Normandie. Ein »Jetzt«, von dem aus zurückgeschaut wird, ist nie ganz festzumachen. Sind es jene Passagen, in denen Jeanne gebeugt und verhärmt durch den Regen irrt? Erinnert sie sich von da aus an all das Unglück in ihrem Leben? Die Fragmentierung fordert den Betrachter, belohnt ihn aber mit der ungewöhnlichen Erfahrung eines Kostümfilms als audiovisuellem Fluss, in dem Vergangenheit und Gegenwart, Davor und Danach – und letztlich auch 19. oder 21. Jahrhundert – relativ werden. Es ist ein Montageverfahren, das bisweilen an Nicolas Roeg erinnert: als ob alles Geschehen in jedem Moment gleichzeitig enthalten und real sei, als fast mystische Gesamtschau eines Lebens.
Das Leben, das da erzählt wird, ist von vielen Enttäuschungen geprägt: Jeanne, behütet aufgewachsen, verliebt sich in Julien, einen jungen und, wie sich bald herausstellt, sehr selbstsüchtigen Vicomte. Alsbald betrügt er sie mit dem Dienstmädchen – was umso verheerender für Jeanne ist, da sie ein fast freundschaftliches Verhältnis zu dem Mädchen hatte. Es bleibt nicht der letzte Schock für Jeanne und nicht der letzte Verrat an ihr. Ausgerechnet die Intervention ihres selbstgerechten Beichtvaters in einer neuerlichen Ehekrise führt geradewegs in eine Tragödie. Bald bleibt Jeanne als einziger Trost nur noch ihr Sohn Paul – doch der sorgt für neue Probleme.
Die Perspektive des Films ist die von Jeanne, häufig schaut ihr die Kamera über die Schulter. Doch die dramatischsten Momente spart die Montage komplett aus, gerade so, als weiche der Film vor ihren allerschlimmsten Seelenqualen zurück. Auch bei der Entdeckung des ersten Ehebruchs spart der Film die entscheidenden Minuten aus, folgt erst kurz darauf und mit einigen Metern Abstand der verzweifelten Jeanne und ihrem auf sie einredenden Mann in einiger Entfernung durch die Nacht: weiße, schreiende Schemen in nahezu alles verschlingender Dunkelheit – ein fast abstraktes, eindringliches Bild für die Verlorenheit der Protagonistin.
Man könnte sagen, Jeanne sei zu gut für diese Welt, ihre Naivität fordere die Enttäuschung geradezu heraus. Zugleich beeindruckt ihr Charakter aber durch eine Natürlichkeit und Offenheit, die der Welt ganz unbefangen gegenübertritt. Ihre Naivität ist keine Dummheit. Aber dass sogar die Menschen, die sie liebt, zu Lügen fähig sind, will einfach nicht in ihren Kopf. Im famosen Spiel von Judith Chemla werden das Liebenswerte wie auch das Tragische an Jeannes Wesen absolut einleuchtend, ihr Weg in eine Verzweiflung an der Welt auf sehr berührende Weise nachvollziehbar.
Wie subtil Stéphane Brizé auch bei scheinbar randständigen Aspekten zu Werke geht und alles auf seine Hauptfigur fokussiert, zeigt auch die Verwendung eines zeitgenössischen Pianoforte statt eines heutigen Konzertflügels für den Soundtrack: Der leicht verschwommene und dabei intime Klang verstärkt noch den Realismus des Zeit- und Gesellschaftsbilds wie auch den Eindruck der Verletzlichkeit seiner Heldin. Dass aber bei allem Traurigen, das ihr widerfährt, die Bitterkeit nicht das letzte Wort hat, dafür sorgen ein paar elegant gesetzte Akzente, die die Perspektive zum Ende hin noch einmal ein wenig verschieben, getreu dem Motto: »Das Leben ist niemals so gut und niemals so schlimm, wie man glaubt.«
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