Kritik zu Der Gymnasiast
Christophe Honoré dreht nach »Sorry Angel« (2018) erneut einen stark autobiografisch inspirierten Film, den er seinem früh verstorbenen Vater widmet. Paul Kircher spielt den Schüler Lucas, der mit dem Unfalltod seines Vaters fertigwerden muss
Lucas (Paul Kircher) schläft bereits, als es an der Tür seines Internatszimmers klopft und sein älterer Bruder Quentin (Vincent Lacoste) mit versteinerter Miene im Flur steht. Ihr Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Es dauert eine Weile, bis Lucas begreift. Länger als die Fahrt in den Heimatort am Fuß der französischen Alpen. Automatisch begrüßt er Verwandte und Freunde, die sich im Haus versammelt haben, fragt nach ihrem Wohlbefinden. Schließlich sieht er seine Mutter Isabelle (Juliette Binoche), umarmt sie. Irgendwann geht er in sein Zimmer und legt sich aufs Bett, starrt an die Decke. Und plötzlich kommt der Schmerz, wie eine Welle, und er schreit in sein Kopfkissen, lässt sich kaum beruhigen.
In seinem neuen Film »Der Gymnasiast« verarbeitet der französische Regisseur Christophe Honoré die eigene Jugend und den frühen Tod seines Vaters. Ihm ist der Film gewidmet, und in den wenigen Szenen vor dem Unfalltod spielt Honoré ihn selbst. Zur Nabelschau gerät ihm die persönliche Auseinandersetzung aber keineswegs.
Vom Vaterverlust erzählt Honoré als Zäsur mit widersprüchlichen Folgen. Die Zeit des Abschieds und der Trauer, zwischen Taubheit, Wut und Lebenshunger, wird für den 17-jährigen Protagonisten zum Selbstfindungsprozess. Allein mit der Mutter weiß Lucas lange nicht, wohin mit seinen Gefühlen, nichts scheint mehr Sinn zu ergeben, warum noch zur Schule gehen? Irgendwann versucht er, sich das Tragische zu erklären. Hat sich sein Vater womöglich das Leben genommen? Isabelle ist entsetzt über diesen Gedanken, es kommt zum Streit. Quentin, der in Paris lebt, holt den Bruder für eine Weile zu sich, wo er auf andere Gedanken kommen soll. Und Lucas stürzt sich ins Leben, lässt sich treiben, versucht, seinen Körper zu spüren, auch durch Sex.
»Der Gymnasiast« ist nicht nur eine Studie über Trauer und Verlust, sondern auch das bittersüße Porträt eines Erwachsenwerdens mit all den Einschnitten, die fürs Leben prägen, im Guten wie im Schlechten. Erzählt wird dies fast ausschließlich aus Lucas' Perspektive. Honoré lässt sein Alter Ego immer wieder direkt in die Kamera sprechen, die Ereignisse kommentieren, lange nachdem sie passiert sind. Es ist, das wird erst langsam klar, eine Rede an den Vater, als wäre er noch immer ein Gegenüber.
In Rückblenden springt die Handlung zwischen den Zeiten, zersplittert in Einzelmomente und findet damit eine adäquate Form für das Auf- und Abebben der Trauer. Juliette Binoche ist wie immer eine rohe Wucht, doch die eigentliche Entdeckung ist der 2001 geborene Paul Kircher in der Hauptrolle. Er trägt nahezu jeden Moment des Films, stark und verletzlich zugleich, die Kamera ist immer ganz nah dran. Erst ganz am Ende wechselt die Erzählperspektive, von Lucas auf Isabelle. Ihr gehört der letzte Monolog, ihrem Schmerz, aber auch ihrer Resilienz und ihrem langen Weg in ein Leben nach dem Verlust. Der Film mag dem Vater gewidmet sein, doch letztlich ist er Honorés Liebeserklärung an die Mutter.
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