Kritik zu The Cut
Die Macht des Einzelnen: Fatih Akins mutiges Epos über den ottomanischen Völkermord an den Armeniern erfüllt vielleicht nicht die hohen Erwartungen, berührt aber allemal durch sein Anliegen
Filme mit großem Anliegen haben es leicht und schwer zugleich. Der leichte Teil ist der vor der Premiere: Es gibt jede Menge Berichterstattung, weil das große Anliegen allein schon Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der schwere Teil kommt danach: Der Film muss den auf diese Weise stetig gewachsenen Erwartungen auch standhalten. Die wenigsten Produktionen überstehen dieses brüske Auf und Ab völlig unbeschadet. Fatih Akin gehört spätestens seit seinem Gewinn des Goldenen Bären für »Gegen die Wand« zu den deutschen Regisseuren, von denen man etwas erwartet. Als im August bekannt wurde, dass sein neues Projekt, ein Film über den Genozid an den Armeniern, im Wettbewerb von Venedig Premiere feiern würde, wurden aus den Erwartungen gar so etwas wie Ansprüche. Und entsprechend bösartig fielen die Reaktionen aus, als »The Cut« bei der Premiere diesen Ansprüchen nicht gerecht wurde.
Vielleicht war es aber auch so: Der Film passte einfach nicht zu ihnen. Das beginnt schon mit der Form: Akin hat »The Cut« ganz bewusst als großes und damit gewissermaßen altmodisches Epos angelegt. Er setzt das Schicksal eines Mannes ins Zentrum, den er als Zeugen und Stellvertreter durch das Geschehen führt. Der von Tahar Rahim (»Ein Prophet«) gespielte Schmied Nazaret Manoogian lebt mit Frau, zwei Töchtern und erweiterter Großfamilie zu Beginn, im Jahr 1915, in Mardin, einer Stadt im Südosten des ottomanischen Reiches. Noch herrscht eine Art multikulturelles Idyll, aber Schreckensnachrichten über Deportationen anderswo machen bereits die Runde. Bald wird auch Nazaret zusammen mit einem Cousin von türkischen Milizen zur Zwangsarbeit abgeführt. Beim Straßenbau in der Wüste werden die beiden zu Augenzeugen der bekannten Todesmärsche, sie erleben Willkür, Vergewaltigung und Massaker. Dem eigenen Tod entgeht Nazaret nur durch das Missgeschick des Schergen, der ihm die Kehle durchschneiden soll und dabei lediglich die Stimmbänder trifft. Nazaret überlebt und schleppt sich auf der Suche nach seiner Familie in eines der berüchtigten Sammellager, wo die osmanische Aufsicht armenische Frauen und Kinder elendig an Hunger und Krankheiten zugrunde gehen lässt. Seine gesamte Familie tot glaubend, landet er schließlich als Flüchtling in Aleppo, wo ihn ein gütiger arabischer Seifenproduzent bei sich aufnimmt. Nach Kriegsende erfährt er, dass seine beiden Töchter noch am Leben sein könnten, und macht sich auf die Suche, die ihn über Kuba in die USA und dort bis nach North Dakota führen wird.
Einmal mehr ist auch bei Fatih Akin der Weg das Ziel. Seine Spannung zieht »The Cut «nicht aus dem von Beginn an ziemlich absehbar erscheinenden Ausgang der Geschichte, sondern daraus, was Nazaret auf seiner Reise widerfährt. Er ist ein passiver Held, durch den Kehlschnitt bald zum Inbegriff des »stummen Zeugen« verurteilt, der das grausame Geschehen um sich herum gewissermaßen speichert. Dem französischen Schauspieler Tahar Ramin bleibt aber so kaum mehr zu tun, als seiner Figur einen gleichbleibend trotzigen Stolz zu verleihen, der ihn bei allen Rückschlägen nicht aufgeben lässt. Hochkarätig besetzt ist die Reihe der Figuren, denen Nazaret auf seiner Reise mal im Guten, mal im Schlechten begegnet, vom Franzosen Simon Abkarian über die Dänin Trine Dyrholm bis zur kanadischen Armenierin Arsinée Khanjian und dem Deutschen Moritz Bleibtreu.
Akin gelingt es dabei bestens, die Situationen auf Leben und Tod eindringlich und, was das Besondere dabei ist, ganz ohne ethnische Stereotypie zu schildern. Die religiöse Zugehörigkeit seiner Figuren unterspielt er geschickt. Der Film scheint darauf zu bestehen, dass Menschen sich nicht dadurch unterscheiden, dass sie zu Allah beten oder ein Jesu-Kreuz-Tattoo tragen, sondern allein durch ihre Handlungen. Die guten wie die Gräueltaten zeigt Akin immer auch als Aktionen von Individuen, nicht nur als Ergebnisse einer anonymen Befehlsmaschinerie. So leistet der muslimische Dieb, der beauftragt war, Nazaret die Kehle durchzuschneiden, später eine Art Sühnedienst an ihm. Die türkischen Deserteure, die als Wegelagerer zwischen den Kriegsfronten ihr Unwesen treiben, versuchen, die Opfer ihrer Überfälle trotz allem menschlich zu behandeln. Der syrische Seifenfabrikant, der ihn und andere armenische Flüchtlinge wie selbstverständlich bei sich aufnimmt, tut das als gläubiger Moslem. Später muss Nazaret erleben, dass es Vergewaltigungen an ethnischen Minderheiten auch in den USA gibt.
Die epische Form bringt aber auch ihre Probleme mit sich. Das weite Spektrum von Orten und Handlungen, das Akin behandelt, verführt ihn zur Wiederholung großer Panoramaszenen, die, obwohl teuer und mit vielen Statisten inszeniert, einen leicht naiven Bilderbuchcharakter bekommen. Zwar belegt Akin erneut auch sein Talent für die atmosphärische Etablierung ganz verschiedener Orte und Zeiten, sei es Aleppo um 1918 oder Havanna um 1922, doch eine große Schwäche des Films liegt ausgerechnet bei der Zeichnung seiner Figuren. Zusätzlich verstärkt durch das Erzählen in Stationen, repräsentieren sie mehr bestimmte Ideen als dass sie als Charaktere lebendig werden.
So ist die Liste dessen, was man Akins Film als Nichterfüllung von Erwartungen vorwerfen kann, einigermaßen lang: die bloße Bebilderung statt zugespitzter Aufklärung über Ursachen, das Setzen auf Emotion, wo eine distanziertere Darstellung vielleicht mehr Wirkung entfalten könnte, und schließlich das Ausufern-Lassen der Erzählung zeitlich und geografisch weit über den Rahmen des Genozids von 1915 hinaus. Aber gerade in Letzterem scheint etwas von jener besonderen, ungezähmten Emotionalität auf, die Akins stärkste Filme wie »Gegen die Wand« und »Auf der anderen Seite« so prägte. Die Wehmut über die versprengten Schicksale in der Diaspora gehört zur Geschichte genauso wie die grausigen Details der Todesmärsche und –lager. Und so berührt »The Cut« sein Publikum über alle zu hohen Erwartungen hinweg durch Akins mutiges Anliegen, ein zu oft marginalisiertes Verbrechen offensiv als solches zu benennen.
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