Kritik zu Cronofobia
Ein bisschen wie »Vertigo« auf schweizerisch: Ein »Mann ohne Eigenschaften« beobachtet eine einsame Frau. In Francesco Rizzis stilsicherem Debütfilm geht es um Schuld und Trauer, Rollenspiele und Identität
Um die Frage nach dem rätselhaften Titel gleich zu beantworten: als Chronophobie bezeichnet man die krankhafte Angst vor dem Verstreichen der Zeit. Ob der geheimnisvolle Michael (exzellent: Vinicio Marchioni) an dieser Angst leidet, ist unklar. Tatsache ist, dass er sich der Gesellschaft entzieht. Er wohnt in einem Lieferwagen und beschränkt soziale Kontakte auf das notwendigste Minimum. Nachts beobachtet er von seinem Auto aus Anna (Sabine Timoteo), die offenbar an Insomnie leidet und deren Haus kein Zuhause zu sein scheint. Lange bleibt im Dunkeln, was den wortkargen Michael antreibt, und geschickt spielt der Film hier mit Motiven des Thrillers und des Kriminalfilms. Ist er ein Einbrecher? Ein Stalker? Ein Killer?
Eines Nachts steigt Anna plötzlich in sein Auto – auf der Flucht vor ihren wohlmeinenden Eltern, die ungebeten vor ihrem Haus auftauchen. Auf dem Beifahrersitz seines Wagens kann sie endlich einschlafen. Was die beiden tatsächlich miteinander verbindet, soll hier nicht verraten werden, auch wenn dieser Aspekt letztlich nur den Angelpunkt für Francesco Rizzis eigentliches Thema bildet: Eine Reflexion über Identität und Heimat. Die Unbehaustheit von Michael und Anna (bei ihr aus Trauer, bei ihm aus Schuld) ist nur die augenfälligste Ebene.
Michaels Job als Testkunde macht ihn zu einem »Mann ohne Eigenschaften«. In immer neuen Rollen überprüft er, ob andere Menschen ihren beruflichen Rollenvorgaben gerecht werden. Als eleganter Gentleman lässt er sich in einem Juweliergeschäft beraten; mit dem Habitus eines Managers checkt er in ein Luxushotel ein. Für Anna schlüpft er in die Rolle ihres verstorbenen Mannes. Nach ihrer Anleitung imitiert er seine Gesten, spielt häusliche Zweisamkeit und gemeinsam erlebte Situationen nach. In den besten Momenten wirkt das wie eine Mischung aus »Vertigo« und Sidney Pollacks in der Schweiz spielendem »Bobby Deerfield«, wo es ebenfalls um eine von Rastlosigkeit und Trauer getragene Beziehung ging.
Aber auch die Schweiz wird zu einem seltsam identitätslosen Ort fernab von Alpen- und Schokoladenklischees. Mal sprechen die Menschen italienisch, dann französisch, dann wieder Schweizerdeutsch. Michael bewegt sich in gesichtslosen Transiträumen wie Tankstellen, Hotelzimmern und Schnellrestaurants, von Rizzi mit einer klinischen Unterkühltheit inszeniert, die mehr an »Under the Skin« erinnert, als an Heidi.
Diese radikale Stilisierung ist einerseits faszinierend, bildet aber auch das Handicap des Films. Denn aus den kühlen Beobachtungen entwickelt sich weder eine nennenswerte Dramatik, noch eine emotionale Dringlichkeit. Irgendwann ertappt man sich bei dem Gedanken, hier vor allem einer eindrucksvollen Stilübung beizuwohnen. Selbst ein melancholisches Gedicht von Charles Bukowski wirkt in diesem Kontext intellektualisiert, nicht sinnlich. Erst ganz am Ende kommt die Beziehung von Michael und Anna in Bewegung, entwickelt sich daraus für beide etwas Kathartisches. Gerne würde man nun wissen, wie es weitergeht. Auch das ist natürlich eine Qualität.
Kommentare
Cronofobia
Die Hauptfiguren verharren in Ihrer Haltung. Anna kann sich nicht von Ihrer Vergangenheit trennen (und den Dingen, die damit zusammenhängen) und einen Neuanfang wagen, Michael hält an nichts fest und lebt als moderner Vagabund.
Cronofobia
Michael spürt intuitiv die Blockade von Anna.
Was Anna mit ihm erlebt, erspart ihr eine jahrelange Psychotherapie. Die einfühlsame Art wie Michael agiert, hilft ungewollt sich auch auch seiner eigenen Einsamkeit bewusst zu werden. Der Autor und Filmemacher hat ein enormes Potenzial. Ich bin sehr gespannt auf weitere Produktionen von ihm.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns