Kritik zu 9 Leben
Berichte vom Rand und gleichzeitig der Mitte unserer Gesellschaft: In Maria Speths Dokumentarfilm erzählen jugendliche Ausreißer von ihrem Leben auf der Straße und dem, was sie dorthin getrieben hat
»Außenseiter war ich immer schon gewesen«, sagt Sunny. Ihr hübsches Gesicht hat sie hinter vielen Piercings geradezu versteckt. Sunny gehört zu jenen Jugendlichen in Deutschland, die im Alter von 11, 12 oder 13 Jahren von zu Hause weglaufen und auf der Straße leben, im statistischen Durchschnitt fünf Jahre lang. Die deutsche Filmemacherin Maria Speth erzählt in ihrer dokumentarischen Studie »9 Leben« die Geschichte von Ausreißern wie Sunny und Za, Krümel, Toni, Soja, JJ und Stöpsel. Das heißt, die Regisseurin tritt fast vollkommen hinter ihre Gesprächspartner zurück; sie allein haben das Wort.
Reinhold Vorschneiders Kamera nimmt sie vor einem abstrakten Hintergrund auf, entzieht sie vollkommen einem gesellschaftlichen Hintergrund. Die 1967 geborene, in Potsdam-Babelsberg ausgebildete Maria Speth sagt, sie habe sich an den Porträtfotos aus »The American West« von Richard Avedon orientiert. Ein mutiger Vergleich. Aber Speth, verantwortlich für Buch, Regie und Schnitt, kann ihn sich leisten. Selten ist das medial häufig gespiegelte Schicksal sogenannter street kids so intensiv erzählt worden. Speths Minimalismus kann auf illustrierende Kamerafahrten zum Bahnhof Zoo und zum Alexanderplatz verzichten. Ihre Protagonisten zeichnen Bilder, die plastischer sind als die allzu vertrauten Aufnahmen von jungen Menschen, Drogen, Alkohol und lauernden Freiern.
Es ist erstaunlich, wie hellsichtig Sunny und die anderen die einzelnen Stationen ihrer Biografie erklären. Die Ursache für fast alle Ausbrüche aus den vertrauten Strukturen ist die Erosion der familiären Verhältnisse. Statt Geborgenheit und liebevoller Zuwendung haben die jungen Menschen Gewalt, Gleichgültigkeit und Zurückweisung erfahren müssen.
»Die Dunkelheit war immer mein Versteck«, sagt einer, der vor seinem grausamen Onkel immer unters Bett flüchtete. Heute ist er selbstmordgefährdet, ein Fremder in seinem Körper: »Manchmal brauch ich Schmerzen.«
Jessica stellt fest: »Ich bin froh, dass ich diese Frau nicht mehr sehen muss.« Gemeint ist die Mutter, für die sie Hass empfindet – und immer noch ein bisschen Liebe. Sie können ihren Biografien nicht entfliehen. In fast jedem Fall in Maria Speths Film kommt der Augenblick, wo die Offenheit der Zeugnisse an die Schmerzgrenze stößt, wo Erkenntnis weh tut. Dann verbirgt auch eine coole Pose nicht die erlittenen Traumata.
Illusionslos berichten sie von Drogen, die einen »gewissen Zustand von Taubheit« ermöglichen. »Geld beschaffen, Drogen beschaffen «, beschreibt Sunny einen Teufelskreis. »Ziemlich sinnloses Dasein«, bilanziert sie. Doch das merke man ja nicht. Über die Wege zum Geld mag sie nicht reden. Statt dessen: eine lange Gesprächspause. Positiv besetzt sind die Ersatzfamilien auf der Straße, in denen die Jugendlichen Selbstbewusstsein tanken. Speths Film handelt von Niederlagen, aber auch von kleinen Triumphen. Sei es im Privaten, in der Familie mit fünf Kindern, die sich dem Zuschauer im Gruppenbild vorstellt. Oder in der Musik. Za spielt auf dem Cello seelenvoll Tschaikowsky. Toni & Les Petits Hotz jazzen zusammen mit Krümel à la Django Reinhardt. Da wird die Kraft von Menschen erfahrbar, die das Leben scheinbar als Verlierer abgeschrieben hat.
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