Kritik zu Meine Stunden mit Leo
Kammerspiel um eine der wichtigsten Fragen des Lebens: Wie komme ich zu gutem Sex? Emma Thompson spielt eine pensionierte Lehrerin, die sich nach Jahrzehnten einer frustrierten Ehe einen Callboy leistet. Wichtiger als der Sex erweist sich dabei einmal mehr das Reden von Frau zu Mann – nicht nur über Sex
Nancy Stokes (Emma Thompson), pensionierte Religionslehrerin und seit zwei Jahren verwitwet, hat nur noch einen Wunsch: Sie möchte nach einer langweiligen Ehe mit einem sehr reduzierten Sexleben einmal wirklich erregt werden. Dass sie dabei erstmalig zu einem Orgasmus kommt, erwartet sie gar nicht. Es geht ihr um eine Erfahrungswelt, die sie nur aus der Literatur und den Medien kennt. Ihr Mann, so sagt sie, wäre auf sie geklettert, hätte den Job erledigt, sich heruntergerollt und wäre eingeschlafen. Und das auch nicht sehr häufig.
Als Mitreisenden in die Welt des zügellosen Sex hat sie sich den jungen, attraktiven Callboy Leo Grande (Daryl McCormack) auserkoren. Sie trifft sich mit ihm in einem Hotel am Stadtrand. Beiden wird sehr schnell klar, dass es ein langer Weg ist, von mechanischem sexuellem Vollzug zu glücklicher Erregung. Und so reden sie erst mal über das, was sie gerne tun wollen, lassen Worte die Intimität herstellen, die es braucht, um sich körperlich näherzukommen.
Nancy hat noch nie mit jemand anderem als ihrem Mann geschlafen und auch zu ihrem eigenen Körper ein äußerst distanziertes Verhältnis. Sie fragt Leo nach seiner Familie aus und erzählt von ihren eigenen erwachsenen Kindern. Sie hat sogar seinen wirklichen Namen herausgefunden und bietet ihm an, mit seiner Mutter, die nichts vom Job ihres Sohnes weiß, Kontakt aufzunehmen. Damit aber verletzt sie ein wichtiges Tabu; Leo verlässt wütend das Hotel.
Doch es hat sich etwas entwickelt zwischen dem ungleichen Paar und so treffen sie sich erneut. Als Nancy dabei von einer ehemaligen Schülerin erkannt wird, stellt sich heraus, dass nicht nur Leo ein Pseudonym benutzt, sondern auch Nancy ihren wirklichen Nachnamen, Robinson, verschwiegen hat. Über diese dritte Person lösen sich plötzlich die vielen Knoten und nun kann sich Mrs. Robinson, in anspielungsreicher Verkehrung der Filmgeschichte, endlich auf ihren jungen Liebhaber einlassen.
Am Schluss steht Nancy nackt vor einem Spiegel und betrachtet mit dem Zuschauer ihren über 60 Jahre alten Körper. Voller Würde, Erotik und Akzeptanz. Das sei »das wohl Schwierigste gewesen, was ich je tun musste«, sagte Emma Thompson dazu in einem Interview mit »Variety«.
»Good Luck to you, Leo Grande« heißt der Film der australischen Regisseurin Sophie Hyde im Original und man fragt sich, warum die deutschen Verleiher nicht in der Lage sind, eine gleichwertige Übersetzung zu finden. Wohlwollender Abschied, großherzige Akzeptanz und eine gewisse schwungvolle Poesie stecken bereits im Titel. Tatsächlich geht es zwar die ganze Zeit um Sex, gewisse Praktiken werden auch klar benannt, doch der eigentliche Inhalt ist ein anderer. Hier sollen Hemmungen mit Würde überwunden und körperliche Bedürfnisse entmythologisiert werden. Es geht um Intimität, Grenzen und Tabus, um Normalität von Sex und Erotik und deren sprachliche Umsetzung.
Fast der ganze Film spielt in nur einem Raum und wirkt wie ein adaptiertes Theaterstück. Doch hier zeigt der Film, was er kann. Die Mimik von Daryl McCormack, wenn er den schüchternen Erklärungen seiner Mandantin lauscht, seine zögerlichen Annäherungsversuche oder die direkte Offenheit, die erschreckten Reaktionen von Emma Thompson und ihr befreiendes Lachen, all das ist jenseits von Worten wahrnehmbar. Emma Thompson, ohnehin eine der vielseitigsten Darstellerinnen, ist immer wieder dann am besten, wenn sie sich auf sich selbst verlässt. 2001 spielte sie in Mike Nichols' »Wit« eine Literaturprofessorin, die an Krebs stirbt und darüber mit dem Zuschauer spricht. Auch da standen Worte für Handlungen, war der humorvolle, stets treffende Einsatz der Sprache Zentrum des Films. Damals hatte sie das Drehbuch selbst geschrieben. Hier folgt sie den Worten von Katy Brand. Aber es wirkt, als wären es ihre eigenen.
Kommentare
Meine Stunden mit Leo
Dieser Kommentar geht gleichlautend an EPD und FSK:
Obwohl ich seit mehreren Jahrzehnten weder ins Kino gehe noch Fernsehen gucke, was natürlich einen enormen Gewinn für das primäre Leben bedeutet, möchte ich mich doch hier melden. Ich hatte in meiner Tageszeitung eine Besprechung des Films gelesen und dann im Internet gesehen, dass es viele, aber fast gleichlautende Besprechungen und auch einige Video-Auszüge dazu gibt. Der Grund für meinen Kommentar ist die Freigabe durch die FSK schon ab 12 Jahren. - Die Machtstrukturen, auf die die Macher immer setzen, wenn es um Sexualität im Film geht, sind geprägt durch eine Hierarchie, die von den Chefs ausgeht und sich über die Schauspieler bis zu den völlig machtlosen Zuschauern fortsetzt. Was soll eigentlich ein Kind machen, wenn es durch den Film diffus oder ganz direkt erregt wird? Wie soll es verstehen, dass das in anderen fremdinduzierten Fällen - ohne den Heiligenschein der "Kunst" - verboten ist? - Abgesehen von dem völlig lächerlichen vorurteilsvollen Männer- und Frauenbild, von dem die Macherinnen offensichtlich ausgehen, um ihre Mission anzubringen, stellen sich weitere offensichtlich nicht einmal angedachte Fragen: Was soll das Kind davon halten, dass sich die Frau an einen Prostituierten wendet? Und warum an einen jungen, wo die Botschaft des Films doch angeblich lautet, dass es auf einen perfekten Körper eigentlich gar nicht ankommt? Warum stört sich niemand an der plumpen Diskriminierung des verstorbenen Ehemanns (Das ist ja keineswegs komisch, sondern zentraler Teil der Mission)? - Und warum stellt sich Emma Thompson für das Filmpublikum nackt vor einen Spiegel, obwohl sie das angeblich große Überwindung kostet? Ist es psychischer Zwang? Ist die Regisseurin des Films auch die Regisseurin von Thompsons Körper? - Besonders wichtig ist, dass Kinder ja ganz unterschiedliche Charaktere, Umfelder und Erfahrungen haben, und es kann doch nicht sein, dass die Robustesten und Mächtigsten dominieren - womöglich bald noch unterstützt durch Schule und Kirche. Wahrlich ein fragwürdiges "Einfühlungsvermögen", für das sich das Netzwerk "Sex sells" in diesem Fall so sehr lobt.
Kommentar von Hr. Keller
Nur weil er ab 12 ist, bedeutet das noch lange nicht, dass Kinder den Film ansehen müssen. Soll der Film ab 18 sein, weil eine nackte Frau vorkommt? Hat jedes Kind schon mal gesehen. Kämpfen sie lieber gegen das Internet, dort kann jedes Alter alles angucken.
Ein Thema mit Riesenpotenzial; und doch so viel verschenkt
Um eines klarzustellen: Die Idee zu diesem Film, das Thema in all seinen Facetten Reichtum sind gigantisch gut! Umso tragischer ist es, dass der Streifen so viel von dem enorm großen Potenzial verschenkt, das ihn zu einer echten Bombe hätte machen können. Zu wenig ausgearbeitet sind die beiden Charaktere, zu unkonkret und plötzlich die Wandlung der zwanghaft kontrollierten Lehrerin, zu banal die Aussprache von Nancy und Leo nach dem Bruch und die Conclusio samt Outing gegenüber der ehemaligen Schülerin. Der Film verwehrt dem Publikum leider, was er der Heldin des Stückes zum Geschenk macht, indem er den Zuschauer mit einem tiefen Gefühl fehlender Befriedigung zurücklässt - und das obwohl dieser den beiden Protagonisten sicher mit sehr viel Wohlwollen bei deren exotischem Abenteuer beiwohnte.
Gewiss ist es eine bemerkenswerte Leistung, das sexuelle Verlangen einer betagten Frau mit aller Ernsthaftigkeit zu beleuchten und dabei der weiblichen Lust jenseits männlicher Vorgaben grundsätzliche Legitimität einzuräumen. Zudem wird der Körper- und Jugendwahn, dem Frauen traditionell und überall ausgesetzt sind, empfindlich getroffen, indem der Zuschauer gezwungen wird, der alternden Witwe und Mutter beim Liebesspiel mit dem jungen und gut gebauten Leo zuzuschauen. Obendrein mutz die Regie dem Publikum auch noch einen Blick auf den komplett entkleideten welken Körper der Heldin zu. Chauvinismus-Getriebene dürften den Kinosaal jedoch schon weit vorher verlassen haben, allein schon weil die Befindlichkeiten der Protagonistin so große Aufmerksamkeit bekommen.
Dennoch hört der Film auf, als es gerade richtig spannend zu werden verspricht. Denn über weite Strecken versteckt sich Nancy beharrlich hinter ihrem Panzer, der sie über Jahrzehnte beschützt hat, und reproduziert Erwartungen an Sexualität und auch an sich selbst, die ihr von außen - durch gesellschaftliche Normen - aufgezwungen wurden und die die sich zu eigen gemacht hat. Nachdem wir beobachten konnten, wie ihr junges Gegenüber mit scheinbar Respekt gebietender emotionaler Intelligenz ihren Panzer geschickt und Stück für Stück durchdringt, kommt es zum Eklat mit demselben, obwohl dessen Seelenheil bis dahin vom Drehbuch geflissentlich ignoriert worden war. Vielmehr hatte man sich seit Filmbeginn bequem in der Struktur einer Therapeut/Patientin- Beziehung eingerichtet, die dadurch ziemlich radikal umgedeutet wird.
Man wünscht sich eine Vertiefung der bis dahin gewachsenen Beziehung, bei der man sich wünscht, tiefer in den Prozess der "Heilung" einzutauchen und der Protagonistin dabei zuzusehen, wie sie aus ihren eigenen Klauen befreit wird. Zwar ist sie das am Ende, doch der innere Weg dahin, also das, was diese Geschichte überhaupt so unglaublich spannend macht, bleibt dem Zuschauer traurigerweise verborgen bzw. wird nur oberflächlich gestreift. Stattdessen wird die Protagonistin zu einem Outing gegenüber einer ehemaligen Schülerin verdonnert (Höchststrafe für eine Lehrerin), weil sie dadurch gleichermaßen für die Person ihres Gegenübers sowie für die Tatsache Position bezieht, dass sie Sex kauft und damit Sex-Arbeit akzeptiert. Diese Wendung ist besonders absurd, weil Nancy ja gerade dadurch wieder aktiv Konformität mit den eng normierten gesellschaftlichen Moralvorstellungen demonstriert, von denen sie die Geschichte ja so engagiert zu befreien versucht. Zudem ist zu Leos Person nichts als ein Konflikt mit einer offenbar in katholischen Moralzwängen verhafteten Mutter zu erfahren - eine Facette die weniger der Offenlegung von Leos Charakter dient als vielmehr zum Erreichen des dramaturgischen Wendepunktes.
Unterm Strich freut man sich gewiss am Ende über die sexuelle Befreiung dieser alternativen Mrs. Robinson, bleibt aber mit unzähligen Fragen zurück und dem Gefühl, dass man das Wesentliche verpasst hat - nicht vom Film, sondern von der Geschichte, die er erzählt. Sehr sehr schade, auch wenn eine großartige Emma Thompson neben ihrem überzeugenden Spiel zusätzlich durch eine ungewöhnliche Freizügigkeit in der Abbildung ihres Körpers und bei manchen Sexszenen dem Thema sehr viel mehr Prägnanz und Eindrücklichkeit verleiht.
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