Von intensivem Interesse
Alice wird erst in ein paar Stunden das Licht der Welt erblicken, da geht der Geschlechterstreit um sie schon los. "Ich will einen kleinen Bruder", ruft Louis, "Drei Schwestern reichen mir!" Die Drei hingegen finden, dass ein Bruder vollends genügt. Am Ende schmollt der Sohn und frohlocken die Töchter. Es steht drei zu eins dafür, dass das Wünschen in der Familie Guy geholfen hat.
Das sind gute Auguren für den Familienzuwachs, der heute vor 150 Jahren geboren wurde. Überraschen darf es dennoch, dass aus Alice Guy die erste Regisseurin der Filmgeschichte wurde. Sie eroberte einen Platz, der in der Männerwelt des vorletzten Jahrhundertwechsels nicht vorgesehen war. Georg Seeßlen schreibt im aktuellen Heft ausführlich über die Filmpionierin, die auch an dieser Stelle ("Die Erste" vom 10. 9. 2019) schon gewürdigt wurde. Ich will mich in meiner Gratulation auf den Graphischen Roman beschränken, in dem das Gespann Catel & Bocquet von ihrem Leben berichtet. In Frankreich ist er vor zwei Jahren erschienen, der Bielefelder Splitter Verlag hat die deutsche Übersetzung im Frühjahr herausgebracht; mit einer dezenten Ergänzung und einem willkommenen Vorwort von Sven Bachmann, das auf Alice Guys Filme und ihr Verschwinden aus der Filmgeschichtsschreibung einstimmt.
Das gesamte Buch ist ein einziger, fulminanter Abwehrzauber gegen die Versäumnisse und Vorurteile von Historikern. Die Zeichnerin Catel (Muller) und der Szenarist (José-Louis) Bocquet müssen zuvor ein enormes Quellenstudium absolviert haben, dessen Ertrag nun einen einzigartigen Schatz an Information und Erkenntnissen darstellt. Als Erzähler nehmen sie sich lässliche Freiheiten (ich denke, der Geschwisterzwist vor der Geburt gehört dazu), und als Historiker unterlaufen ihnen allenfalls kleine, treuherzige Fehler. Für mich ist der Alice-Guy-Band der bisherige Höhepunkt des Zyklus', in dem das Gespann hervorstechende Frauenbiographien vorstellt, deren Lebensziel die Entdeckung der Freiheit ist. Er gehorcht einer gleichsam spontanen Systematik, wird 2007 eröffnet mit einem Buch über die Künstlerin/ Muse Kiki de Montparnasse, dem sodann Bände folgen über Josephine Baker, die Schriftstellerin Benoite Groult ("Salz auf unserer Haut") sowie Olympe de Gouges, eine Frauenrechtlerin des 18. Jahrhunderts, die auf Geheiß von Robespierre hingerichtet wurde. (Obwohl sie die unbekannteste in diesem Quintett ist, hat Splitter ausgerechnet dieses Buch ebenfalls verlegt – Chapeau!).
Das Vergessen, das über Alice Guy lange Zeit verhängt wurde, mutet allein schon deshalb absurd an, weil sie eine Figur ist, die erst einmal nichts aufzuhalten vermag. Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie auf zwei Kontinenten (der Vater betreibt Geschäfte in Chile, was die Autoren aus durchaus postkoloniale Perspektive betrachten). Sie kann nirgendwo wirklich Wurzeln fassen, trotzt dem unsteten Dasein aber große Entschlossenheit und Sensibilität ab. Ihr Jugendtraum, Schauspielerin zu werden, zerschellt zwar am Widerstand des Vaters, der eine solche Karriere als Familienschande betrachtet. Aber ihre Gabe zur Einfühlung wird ihr später zupass kommen. Erste Sporen und Ansehen verdient sie sich als Stenotypistin, die sich auch von Grobianen am Arbeitsplatz nicht einschüchtern lässt. Mit besten Referenzen kommt sie in ein Geschäft für Fotografie, in dem sie Léon Gaumont kennenlernt, den baldigen Gründer des Filmkonzerns. Ihre Kreativität blüht auf an der Kreuzung von Wissenschaft, Industrie und Kunst. Nicht nur die Brüder Lumière treten auf den Plan, sondern auch die Halter konkurrierender Patente. Sobald sich Gaumont selbstständig macht und mit dem neuen Medium Film liebäugelt, ergreift sie ihre Chance. Aus der Chefsekretärin wird die Managerin der Filmfirma und rasch deren erste und prägende Regisseurin. Sie ist eine furchtlose Filmemacherin, eine loyale Visionärin und kämpft entschlossen gegen Industriespionage.
Catel & Bocquet legen ungeheures Tempo in dieser Lebensnacherzählung vor, die voller Ellipsen steckt und emonent dialoggetrieben ist. Dass jedes Kapitel mit einer Ansicht von Guys neuem Wirkungsort beginnt, gemahnt weniger an die filmische Konvention des establishing shot, sondern verweist auf ein jeweils nächstes Ziel der ehrgeizigen Frau. Das Seitenlayout ändert sich, sobald sie Gaumont begegnet. Dessen Gestaltung wird freier, einfallsreicher und auch lyrischer, je näher Alice dem Kino kommt. Der erzählerische Schweinsgalopp geht derweil unvermindert weiter, immer glanzvollere Kapitel dieses Werdegangs folgen aufeinander. Ihr zukünftiger Ehemann Herbert Blaché ist ihr zunächst als Kameramann unterstellt, dann wird eine gleichberechtigte Partnerschaft daraus, die sie an die Ostküste der USA führt, wo Alice neue Pioniertaten gelingen. Sie gründen eine eigene Firma, ihre Filme brechen mit gesellschaftlichen Tabus. Indes, ihr Ehemann verspekuliert sich an der Börse und wirft ein Auge auf Starlets. Alice kehrt ihm und den USA den Rücken, kehrt mit den Kindern nach Frankreich zurück, um zunächst die Studios La Victorine in Nizza wieder auf Kurs zu bringen. Aber sie muss feststellen, dass das französische Kino sie nicht nur vergessen hat, sondern dass sie in dessen Augen nie existierte.
Catels Linienführung ist zugleich gerundet und scharf, was eingangs zu Alice' Zuversicht und Energie passt. Er mutet optimistisch an, fast naiv, reist gleichsam mit leichtem Gepäck. Aber dem Niedergang schmiegt er sich ebenso triftig an, entdeckt nun andere Nuancen in Alice' Antlitz und den Stimmungen der Zeitläufte. Einem chronisch missmutigen (was Charme hat, da er Wiener ist) Freund gefiel das nicht, ihm hätte der Anhang des Buches schon gereicht. Denn nach 330 Seiten erzählen Catel & Bocquet die Geschichte der Alice Guy noch einmal neu: in einer chronologischen Zeitleiste sowie in Kurzbiographien ihrer Weggefährten, die übrigens fast ausnahmslos männlich sind. Dieser Anhang birst erneut vor Kenntnisgewinn. Die Zeitleiste umfasst nicht nur ihre Biographie, sondern auch die Vorgeschichte des Kinos (hier werden wenig besungene Pioniere wie der Belgier Joseph Plateau oder der Baron von Urchatius, der die Laterna Magica mit einem Stroboskop kombinierte, in ihr Recht gesetzt) und dessen weitere Entwicklung.
Stilistisch verschieben sich in diesem textlastigen Teil ihre Zuständigkeiten: Catel begleitet die Chronik als Porträtistin Alice Guys, die sie in verschiedenen Lebensaltern sowie in gleichsam pantomimischen Arbeitssituationen zeigt. Aber die Zwei ziehen nach wie vor am gleichen Strang, füllen wehmütig die Lücken, die in ihrem graphischen Lebensbericht klaffen. Alice Guys Beitrag zur Filmgeschichte wird von Gaumont und dem Historiker Georges Sadoul aus dieser gestrichen, dann schreiben René Jeanne und Charles Ford ihn wieder hinein. Henri Langlois widmet ihr 1957 eine Hommage in der Cinémathèque francaise; im Jahr darauf wird sie mit der Ehrenlegion ausgezeichnet. Aber für ihre Memoiren interessiert sich partout kein Verlag, obwohl sie doch "von intensivem Interesse" sind, wie sie selbst ohne falsche Bescheidenheit schreibt. Sie werden erst 1976, acht Jahre nach ihrem Tod, auf maßgebliches Betreiben der Journalistin und Filmemacherin Claire Clouzot veröffentlicht. Fünf Jahre später erscheinen sie übrigens bereits in deutscher Übersetzung im Tende-Verlag in Münster.
Was gibt es nicht alles zu erfahren in diesem grandiosen Nachschlag des Buches! Beispielsweise, dass Guy bereits 1907 bei Dreharbeiten gefilmt wurde. Bislang hielt ich immer "Autour de L'argent`" (siehe "Intimität der Gier" vom 25. 10. letzten Jahres) für das erste Making of der Filmgeschichte. Anders als die französische Ausgabe, die Katja Raganellis Fernsehdokumentation über die Regisseurin ignorierte, erwähnt die des Splitter Verlags deren DVD-Ausgabe im Anhang( jedoch kurioserweise ohne Namensnennung). Ein schönes Bindeglied zwischen Graphischem Roman und Anhang stellt der Filmhistoriker Francis Laccassin dar, der in beiden auftaucht. Lacassin, der auch ein großer Comic-Kenner war (er gründete mit Alain Resnais einen Club der Bewunderer der neunten Kunst) hat seinen ersten Auftritt in diesem Medium, als er 1963 Alice Guy interviewt und sich fortan um ihre Rehabilitierung bemüht. Catel & Bocquet haben ihm ihr Buch gewidmet, denn er brachte sie auf die Idee, es zu schreiben. Gut so, denn einer der Schätze meiner Bibliothek ist ein Buch von ihm, dessen Titel den Geist ihrer Unternehmung treffend beschreibt: "Pour une contre-histoire du cinéma", - "Eine Gegengeschichtsschreibung des Kinos."
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