Antizyklisch

Das Ausrufezeichen war unverzichtbar, manchmal wurde es auch doppelt oder dreifach gesetzt: "Bundesstart!" Wenn Sie wie ich in der Provinz aufgewachsen sind, werden Sie sich bestimmt an die Gepflogenheit der Kinobesitzer erinnern, in Zeitungsanzeigen darauf hinzuweisen, wie frisch ihr neues Programm tatsächlich war. Darin steckte ein Trost für die sich ansonsten abgehängt fühlende Provinzseele und zeigte sich der Stolz der Kinobesitzer, die Aufholjagd mit der Aktualität auch diesmal wieder gewonnen zu haben. Die Möglichkeit, einen Film zeitgleich mit dem Großstadtpublikum entdecken zu können, bescherte beiden Seiten, Besitzern wie Besuchern, ein wohliges Gefühl der Aufwertung.

Im Gegenzug kann es ein Kinogänger natürlich durchaus als Privileg empfinden, einen Film auch ein paar Wochen nach seinem Start noch in einem Saal sehen zu können. Diese Chance boten in den Großstädten traditionell die Bezirkskinos. Aus Berlin sind sie seit der Nachkriegszeit und erst recht mit dem Siegeszug der Multiplexe weitgehend verschwunden (im Gegensatz etwa zu Paris, wo sich etliche cinémas de quartier noch relativ wacker halten.), ein paar gibt es allerdings noch, und einige sind sogar neu entstanden. An diesem Sonntag (26.10.) wird das dreijährige Jubiläum des "Bundesplatzkinos" gefeiert. Drei Jahre klingen erst einmal nicht nach einem besonderen Anlass. Aber andererseits ist es ein besonderes Kino. Ein Filmtheater gibt es an diesem Ort schon seit 95 Jahren. Aber vor drei Jahren ist in das vormalige "Bundesplatz Studio" neues Leben eingekehrt. Drei Filmenthusiasten haben es aufwändig renovieren lassen, digital auf den neuesten Stand gebracht und es nicht übers Herz gebracht, auf einen 35-Millimeter-Projektor zu verzichten: Martin Erlenmaier, Peter Latta und Karlheinz Opitz. Sie können stolz darauf verweisen, dass sie in ihrem kleinen, kaum 90 Zuschauer fassenden Saal viele Filme bereits zum Bundesstart zeigen. In diesem intimen Ambiente laufen sie häufig länger als anderswo, denn die Kinomacher haben es in den drei Jahren verstanden, eine enge Zuschauerbindung zu schaffen: Die Bewohner des Viertels können darauf vertrauen, dass Filme an diesem Ort aus Begeisterung und Liebe vorgeführt werden. An einem Tag der Woche, das ist ungewöhnlich für ein Bezirkskino, zeigen sie neue Filme im Original mit Untertiteln. Es gibt regelmäßig Programme für Kinder. Zugleich wird hier die Filmgeschichte mit diversen Reihen lebendig gehalten. Die Drei haben ihr Kino überdies zu einem Ort der Begegnung gemacht, den Vorraum in ein ansprechendes Café verwandelt. Es gibt mitunter kleine Ausstellungen und eine Bibliothek, die zum Stöbern einlädt. Ich glaube, sie haben das Leben in diesem Wilmersdorfer Kiez sehr bereichert.

Seinen beiden Mitstreitern tue ich damit gewiss Unrecht, aber ich vermute, hinter dieser Neubelebung der alten Kinoidee stecken vor allem Wirken und Wesensart von Peter Latta. Er ist schlichtweg einer der liebenswürdigsten Menschen, den ich kenne. Zuerst begegnete ich ihm als Fotoarchivar in der Stiftung Deutsche Kinemathek, dem heutigen Filmmuseum. Sein ruhiges, aber beharrlich auf Kontakt und Nähe drängendes Temperament nahm mich augenblicklich für ihn ein. An seiner hingebungsvollen Liebe zu seiner Arbeit ließ er nie einen Zweifel aufkommen. Stets war sie verbunden mit einem Talent zur Geselligkeit. Diese Gabe zeigte sich auch in den Jahren, in denen er für die Kinemathek als Kinoleiter der Berlinale-Retrospektiven fungierte - sowie in seiner Tätigkeit als gelegentlichem Wirt in der Schöneberger Kiez-Kneipe "Resonanz", die er vor einigen Jahrzehnte mit gründete. Peter ist, was ein Kinomacher auch sein sollte: ein guter Gastgeber. Jedem Besucher vermittelt er das Gefühl, er freue sich ganz besonders über sein Kommen.

Mit einem banalen Rentnerdasein wollte er sich nicht zufriedengeben und ging deshalb mit seinen Freunden das Risiko einer Kino-Neugründung ein. Ihr Jubiläum feiern sie aufwändig. Sie zeigen als Previews den neuen, wunderbaren Film der Brüder Dardenne (Zwei Tage, eine Nacht) und im Kinderprogramm Der kleine Medicus. In der filmhistorischen Reihe läuft Menschen am Sonntag (mit Tonspur, wie Peter ankündigte). In der Matinee wird, als Hommage an den genius loci, eine Folge der Langzeitdokumentation Berlin - Ecke Bundesplatz gezeigt, zu der die beiden Filmemacher kommen werden. Diese steuern auch kleine Miniaturen von anderthalb bis fünf Minuten Länge bei, die in den nächsten Tagen vor dem regulären Programm laufen sollen.

Ich glaube, Peter ist etwas enttäuscht darüber, dass ich viel zu selten in sein Kino komme. Voraussichtlich werde ich es auch an diesem Wochenende nicht schaffen, da mich ein Krankheitsfall in der Familie in der westfälischen Provinz festhält. In meiner Geburtsstadt Herford gibt es nur noch ein Kino (auch das wurde wiederbelebt durch den Einsatz einiger Filmliebhaber) seit die Multiplexe in dem nahegelegenen Bielefeld das Publikum an sich zogen. Wenn ich mir heute die Kinoanzeigen in der Tageszeitung meiner Eltern anschaue, fällt mir auf, dass in unserer Gegend fast ausnahmslos Bundesstarts laufen. Hingewiesen wird darauf nicht mehr. Ausrufezeichen sind nicht mehr nötig.

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