Kritik zu Zwei Tage, eine Nacht
Im neuen Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne spielt Marion Cotillard eine Angestellte, der die Entlassung droht – wenn sie nicht ihre Arbeitskollegen noch rechtzeitig dazu überreden kann, auf ihre Bonus-Zahlungen zu verzichten
Sandra (Marion Cotillard) war lange krankgeschrieben, sie leidet unter Depressionen. Kaum hat sie wieder Fuß gefasst, da folgt der nächste Schlag. Der Jobverlust, der ihr droht, wäre eine Katastrophe. Sie könnte den Kredit für das kleine Haus am Stadtrand nicht bedienen und müsste mit ihrem Mann und ihrer Tochter zurück in eine Mietwohnung ziehen. Eine letzte Chance scheint es noch zu geben, denn ihre Kollegen wurden vor eine Alternative gestellt: Stimmen sie der Wegrationalisierung von Sandras Arbeitsplatz zu, so erhalten sie 1000 Euro als Prämie. Bei der Abstimmung ging es jedoch unfair zu. Der Vorarbeiter hat seine Kollegen beeinflusst, indem er die Tüchtigkeit der psychisch kranken Sandra infrage stellte. Deshalb soll die Abstimmung wiederholt werden. Zwei Tage und eine Nacht hat Sandra Zeit, um Überzeugungsarbeit in eigener Sache zu leisten.
Die Konfliktsituation erscheint reichlich konstruiert. Trotzdem wurde die zynische Option für die Arbeiter, sich auf Kosten einer gefeuerten Kollegin zu bereichern, in wohlwollenden Besprechungen als treffende Beschreibung ökonomischer Zwänge aufgefasst. Um ein realistisches Abbild der gegenwärtigen Arbeitswelt geht es den Gebrüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrem neuen Werk aber nur am Rande. Nur sehr wenige Szenen sind deshalb im Betrieb, einer mittelständischen Fabrik für Solaranlagen, angesiedelt. Zwei Tage, eine Nacht folgt einer rein filmischen Logik. Wie Henry Fonda in Die zwölf Geschworenen muss auch Sandra einen Kollegen nach dem anderen umstimmen. Über neoliberale Ausbeutung und Kapitalismus sagt der Film ungefähr so viel aus wie Sidney Lumets Gerichtsdrama über Justiz.
Buchstäblich ungeschminkt und ohne jeden Glamourfaktor spielt Marion Cotillard diese ohnmächtige Kämpferin, die ständig Pillen einwirft, sich am Rande des Nervenzusammenbruchs befindet und einen Selbstmordversuch unternimmt. Schmucklose Bilder einer gesichtslosen Vorstadt grenzen das Geschehen auf ein unterprivilegiertes Milieu ein, in dem Arbeiter aus verschiedenen Ländern und Kulturen in ärmlichen Verhältnissen leben.
Die ökonomische Situation dient nicht als bequeme Erklärung dafür, dass Kollegen vor die Wahl gestellt sind, sich zwischen Sandra und 1000 Euro zu entscheiden. Sicher, der Film schildert das alltägliche Verhalten von Menschen, die alle aufs Geld schauen müssen. Niemand nimmt es ihnen übel, auch Sandra nicht, die ihren Stolz hat und nie als Bittstellerin auftritt. Existenziell bedrohlich ist die Entscheidung aber nur für einen Kollegen. Der afroamerikanische Leiharbeiter Alphonse muss befürchten, dass er keine Festanstellung erhält, wenn er für den Erhalt von Sandras Job stimmt. Bei den übrigen Mitarbeitern geht es mehr oder weniger um die Verlockung von »Luxusbedürfnissen«. Es wäre doch schön, wenn man endlich neue Fliesen auf der Terrasse legen könnte.
Doch durch Sandras überraschendes Auftauchen werden die Kollegen dazu gezwungen, sich zu ihrer peinlichen Gier und ihren »niederen Instinkten« zu bekennen. Sie müssen es Sandra jeweils hier und jetzt ins Gesicht sagen. Und so spitzt sich jede der Begegnungen zu einem etwas anderen seelischen »High Noon« zu: Ein Vater wird von seinem Sohn niedergeschlagen. Der Kollege Timur dankt Sandra unter Tränen, dass sie ihn an Mitmenschlichkeit erinnert. Eine Mitarbeiterin lässt sich verleugnen. Eine andere erhält durch Sandras Besuch den entscheidenden Kick, sich endlich von ihrem cholerischen Mann zu trennen.
Der seelische Marathonlauf ist mit Handkamera gefilmt und bleibt dicht an der Figur. Mit präzisen Beobachtungen und überzeugenden Darstellern fächern die Dardennes eine breite Palette urbaner Lebensentwürfe auf. Der Film macht die unterschiedlichen Erscheinungsformen des inneren Schweinehundes sichtbar. Aber selbst diejenigen, die sich gegen Sandra entscheiden, behalten dabei ihre Würde.
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