Mubi: »Made in England: Die Filme von Powell und Pressburger«

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2024
Original-Titel: 
Made in England: The Films of Powell and Pressburger
Filmstart in Deutschland: 
20.06.2024
Heimkinostart: 
28.06.2024
V: 
L: 
131 Min
FSK: 
Ohne Angabe
Licht, Farbe, Bewegung

Das Privileg, seine Erwartungen enttäuschen zu lassen, sollte das Publikum nur wahren Meistern einräumen. Viele Regisseure nehmen es sich heraus. Aber nur wenige besitzen genug Talent, um es zu verdienen. In »Leben und Sterben des Colonel Blimp« gibt es eine ungeheuerliche Szene, deren Spannungsbogen mittendrin abbricht. Sie lässt nonchalant aus, was schlechterdings unverzichtbar ist: Fünf Minuten lang werden wir auf ein Duell eingestimmt, bei dem 1902 ein Offizier die Ehre Preußens gegen einen englischen Patrioten verteidigen soll. Aber nach zwei, drei Säbelhieben entfernt sich die Kamera von den Kontrahenten. Sie schwebt zur Decke empor, durchbricht sie und setzt ihre Fahrt draußen in einem Schneegestöber fort, um schließlich zu einer Kutsche hinunterzugleiten, in der eine junge Frau bang das Ende des Waffengangs abwartet; ohne genau zu wissen, um wen von beiden sie sich mehr sorgt.

Martin Scorsese hat sich nie ganz erholt von dem Schock, den er beim ersten Sehen erlebte: Welchen Wagemut bewiesen die Filmemacher, mit welchem Selbstbewusstsein setzten sie sich über die Konventionen hinweg! Das Bravourstück hinterließ Spuren in seinem eigenen Werk. In »Wie ein wilder Stier« zelebriert er emphatisch die Auftritte Jake LaMottas in der Boxarena, zeigt die Fights aber kurz. Michael Powell und Emeric Pressburger lehrten ihn, dass man im Mainstream Experimentalfilme drehen kann.

In David Hintons Dokumentarfilm berichtet er, wie er als asthmatisches Kind von der Farbenpracht und vagabundierenden Fantasie ihrer Filme überwältigt wurde, obwohl er sie zuerst nur auf einem winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher entdeckte. Augenblicklich war ihm klar, dass dem Kino keine Grenzen gesetzt sind. Noch immer ziehen »Schwarze Narzisse«, »Die roten Schuhe«, »Hoffmanns Erzählungen« und andere Scorsese in den Bann, der sich dank seiner Begeisterungsfähigkeit unmittelbar aufs Publikum überträgt. Außer ihm lässt Hinton nur noch zwei weitere Talking Heads auftreten – die Titelhelden selbst, die er 1986 in einer Fernsehdokumentation porträtierte. Die Deutungshoheit ist mithin konzentriert. In wohltuender Konventionalität folgt »Made in England« der wechselvollen Karriere ihrer Firma »The Archers«, deren exzentrische Produktionen sie zu Außenseitern im wohltemperierten britischen Kino ihrer Zeit werden ließen. Powell wurde nach dem verheerenden Misserfolg seines ersten Solo-Films »Augen der Angst« gar zum Paria. Seit Jahrzehnten kämpft Scorsese für die Rehabilitation dieser zwei Kinomagier. Bereits in seinem dokumentarischen Film »Eine Reise durch den amerikanischen Film« (1995) und in »Meine Reise durch das italienische Kino« (1999) hat er sein außerordentliches Talent bewiesen, dem Publikum die Augen zu öffnen für filmische Strategien und Geniestreiche. Inzwischen ist seine atemlose Diktion etwas ruhiger geworden, aber quecksilbrig ist dieser begnadete Vermittler geblieben. Temperamentvoll führt er vor, wie Powell & Pressburger jene Erzählkräfte entfesseln, die nur dem Kino zu Gebote stehen: Licht, Farbe, Musik, Bewegung. Hintons Montage beglaubigt seine Erkenntnisse fulminant.

Powell, mit dem Scorsese eine innige Freundschaft verband, steht stärker im Fokus als Pressburger. Die erzählerische Engführung spart ohnehin Wesentliches aus. Das formidable Team, das die »Archers« aus lauter Exilanten rekrutierten, wird kaum erwähnt. Die Weltsicht ihrer Produktionen war mitnichten rein britisch, sondern eminent (und während des Weltkriegs trotzig) europäisch. Scorseses Argumentation jedoch braucht das federführende Gespann als ein persönliches Gegenüber. Es sendet ihm Botschaften. Die Themen, die er in ihren Filmen dingfest macht, hatten nicht nur Einfluss auf sein Werk. Sie sind für ihn zu einer Lebensbegleitung geworden, spenden ihm Trost und Gewissheit. Die »Archers« waren Optimisten der Form, die auf ihre Fähigkeiten vertrauen konnten. Obwohl ihre Filme kaum je ein Happy End aufweisen, bersten sie vor Zuversicht.

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