Netflix: »Black Mirror« Staffel 6
»Black Mirror« (» Beyond The Sea«, Staffel 6, 2023). © Netflix
Pa-damm, der Trommelwirbel. Der Jingle ist jedem Netflix-Content vorgeschaltet. Joan (Annie Murphy), Personalchefin eines Tech-Konzerns, erleidet einen Schock, als sie am Abend »Streamberry« anklickt, einen VoD-Anbieter im unverkennbaren Netflix-Design und dort ihren eigenen Tagesablauf verfilmt sieht. Von der zynischen Entlassung einer Mitarbeiterin über pikante Details auf der Couch der Therapeutin bis hin zu einem Seitensprung: »Joan is awful«, so der Titel der Serie, ist ein CGI Deep Fake, der beinahe in Echtzeit ihr Leben spiegelt. Alle schauen gebannt zu. Und jeder weiß nun, wie furchtbar Joan ist: Mit dieser Auftaktepisode zur sechsten Staffel übertrifft die britische Serie »Black Mirror« sich selbst. Darüber hinaus ironisiert der Streaminganbieter sein Image als Datenkrake. Netflix selbst wird zum »schwarzen Spiegel«.
Zum Markenzeichen der Serie wurde der Blick in eine nahe Zukunft, in der technisch Machbares ein klein wenig überreizt wird. Nicht zufällig ist ihr Schöpfer Charlie Brooker ein Nerd der ersten Stunde. Wen wundert es, dass er nicht einmal einen akademischen Abschluss hat? Sein gewähltes Thema, Videospiele, wurde an der Universität Westminster seinerzeit noch nicht als seriös erachtet. Von »Monthy Python's Flying Circus« beeinflusst, lotete der Produzent, Moderator und Journalist gerne die Grenzen des guten Geschmacks aus. Als George W. Bush 2004 in den Präsidentschaftswahlkampf zog, setzte er an den Schluss einer Kolumne im »Guardian« die Frage: »John Wilkes Booth, Lee Harvey Oswald, John Hinckley, Jr. – wo seid ihr, wenn wir Euch brauchen?«
In »Black Mirror« verknüpfte Brooker das Anthologiekonzept aus »Twilight Zone« mit dem subkutanen Psychohorror von Roald Dahl. Die dystopische Sci-Fi-Vision seziert Effekte digitalisierter Kommunikation. Gleich die erste Folge der 2011 auf dem britischen Channel 4 gestarteten Serie verdeutlicht dieses Konzept: Eine entführte Prinzessin soll nur dann frei gelassen werden, wenn der amtierende Premierminister vor Live-Kameras mit einem lebenden Schwein kopuliert. Ein schlechter Witz? Als die öffentliche Meinung in den sozialen Netzwerken sich gegen ihn kehrt, sieht der Minister sich gezwungen, die ultimative Entwürdigung hinzunehmen. »Black Mirror« dekliniert Themen einer virtuell gewordenen Realität durch, die vor kurzem noch unvorstellbar waren. Geradezu als prophetisch erwies sich zum Beispiel die Folge »Nosedive« aus der dritten Staffel von 2016, nachdem Netflix die Serie übernahm. Bei der jungen Lacie (Bryce Dallas Howard) geht nichts mehr ohne Smartphone. Alle sozialen Kontakte und jede Dienstleistung werden direkt gelikt. Umgekehrt wird auch ihr Verhalten auf Schritt und Tritt von anderen bewertet. Ihr virtueller Punktestand ist ein für alle Welt einsehbarer Indikator ihres sozialen Status. Dank einiger Missgeschicke rutscht sie in der digitalen Kastengesellschaft dann jäh nach unten... In China ist ein »Sozialkredit«- System bereits Teil der Realität.
Wie im britischen Magazin »Empire« zu lesen war, erprobte Brooker für die sechste Staffel zuerst ein Verfahren, mit dem die Serie vollends zu sich selbst gekommen wäre: »Schreibe eine Episode Black Mirror«, lautete der Auftrag an ChatGPT. Das Ergebnis sei jedoch »Mist« gewesen. Der KI-Chatbot habe lediglich die Zusammenfassungen der bereits veröffentlichten »Black Mirror«-Episoden nachgeschlagen und irgendwie zusammengewürfelt, so Brooker.
Einige der Folgen der aktuellen Staffel zeigen dennoch gewisse Ermüdungserscheinungen. In einem Retro-Horror-Szenario entdeckt ein junges Paar mit True-Crime-Dokumentarfilm-Ambitionen den Folterkeller eines vermeintlich bereits aufgeklärten Verbrechens. Ebenfalls sehr retro erscheint die Folge, in der eine Schuhverkäuferin mit indischem Migrationshintergrund unter dem Rassismus ihrer 70er-Jahre-Umgebung leidet und dann durch eine Mordserie die Apokalypse verhindern muss.
OV-Trailer
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