Netflix: »Seitenwechsel«
New York in den 1920er Jahren. Irene (Tessa Thompson) sitzt in einem Teesalon, in dem Schwarze unerwünscht sind, doch sie wird mit ihrem hellen Teint nicht als Afroamerikanerin erkannt. Verstohlen beobachtet sie die weißen Gäste um sich herum. Dann verharrt ihr Blick auf einem Tisch gegenüber, an dem eine blonde Frau sitzt. Die starrt unvermittelt zurück, steht schließlich auf und geht auf sie zu. Irene gerät in Panik, will weg, doch die Frau kommt ihr zuvor. Sie nennt Irene bei ihrem Kosenamen aus Jugendtagen, Reenie. Als sie auflacht, erkennt Irene ihre ehemalige Schulfreundin Clare (Ruth Negga). Und ist irritiert, wie selbstsicher sich die Freundin in diesen ihresgleichen ausschließenden Kreisen bewegt. Denn auch Clare ist Afroamerikanerin, was mit ihrem hellen Teint und den platinblonden Haaren aber niemandem aufzufallen scheint. Irenes Irritation nimmt weiter zu, als sich Clares weißer Ehemann John (Alexanderr Skarsgård), ein Geschäftsmann aus Chicago, mit selbstverständlichem Stolz als lupenreiner Rassist präsentiert. Eine Tatsache, die Clare weglächelt, sie hat sich in diesem falschen Leben eingerichtet, niemand ahnt etwas von ihrer Herkunft.
Die Wiederbegegnung mit Irene aber befeuert Clares Sehnsucht nach den Wurzeln, die sie kappte, um sozial aufzusteigen. Eines Tages steht sie plötzlich vor der Tür des schmucken Brownstown-Einfamilienhauses in Brooklyn, in dem Irene mit ihrem Mann Brian (André Holland), einem erfolgreichen Arzt, und den zwei Söhnen lebt. Sie gehören zu New Yorks afroamerikanischer bürgerlicher Mittelschicht; Irene gibt hier die kultivierte Salondame, die durch ihre Freundschaft mit dem weißen, offiziell heterosexuellen Schriftsteller Hugh Wentworth (Bill Camp) Zutritt in die künstlerischen Zirkel der Stadt erhält.
Den Rassismus ihrer Umgebung versucht sie auszublenden; Nachrichten über stattfindende Lynchmorde sollen ihren Jungs gegenüber nicht erwähnt werden. Doch auch diese Fassade strengt an: Irene ist oft erschöpft und niedergeschlagen. Und die scheinbar unbekümmerte Art Clares, die Irene (Tessa Thompson) mit Ehemann Brian (André Holland) sich wie ein Chamäleon jeder Situation anpasst, macht Irene auch Angst. Clare, Irene, der schwule Hugh – sie alle spielen Rollen in dem Soziotop, das im Filmdrama »Passing« aufgefächert wird. Sie geben sich als jemand anderes aus, mal offensichtlicher, mal versteckter. Jede Pose ist ein Bedeutungsträger, jedes Kleidungsstück ein Schutzschild, das wahre Ich verhüllend oder Ausdruck einer gewünschten Identität, eines Image. Der Begriff Passing stammt aus der Soziologie und bezeichnet ein Phänomen, bei dem die soziale Identität eines Menschen von Außenstehenden nicht erkannt wird, weil sie oder er als Teil der gesellschaftlichen Mehrheit »durchgeht«.
»Passing« ist auch der Titel des Romans, den die afroamerikanische Schriftstellerin Nella Larsen, eine der führenden Autorinnen der Harlem Renaissance, 1929 veröffentlichte; den Begriff machte sie damit erstmals geläufig. Die britische Schauspielerin Rebecca Hall hat sich für ihr beeindruckendes Regiedebüt für einen auf den ersten Blick ungewöhnlichen Stoff entschieden und liefert damit eine kluge Auseinandersetzung mit sozialen Normen, Rassismus und der Frage, was uns biologisch bedingt und wie sehr uns Kultur prägt. Was macht dieses Passing mit einem Menschen? Wie sehr sind wir unserer Herkunft verpflichtet? Oder gibt es ein individuelles Recht, seine Identität frei zu wählen?
Hall selbst setzt sich schon länger mit der Praxis des Passing auseinander, bedingt durch die eigene Biografie: Ihr Großvater mütterlicherseits führte als hellhäutiger Afroamerikaner ebenfalls einen Großteil seines Lebens als »weiß« gelesener Mann. Auf den Spuren seines Lebens stieß Hall auf Larsens Roman, den sie nun in formal strengen Schwarz-Weiß-Bildern adaptierte. Die monochromen Kontraste auf der Bildebene beleuchten die moralischen Grauzonen der gegensätzlichen Lebensentwürfe der zwei Frauen, während das gewählte klassische 4:3-Format zugleich Intimität und Enge suggeriert. Zusammen mit dem spanischen Kameramann Eduard Grau schafft Hall eine Atmosphäre von merkwürdig distanzierter Ruhe, als würde permanent die Luft angehalten, um nicht aufzufallen. So überträgt sie die Mimikry der Protagonisten auch aufs Formale. Ästhetisch erscheint »Passing« in Bildkomposition und dem melodramatischen Fokus auf Gesichter in Großaufnahme selbst wie ein Produkt dieser Ära.
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