Mubi: »Malmkrog«
Fürwahr, an Gesprächsstoff mangelt es nicht an diesem Weihnachtstag. Fragen der Moral und Religion wollen erörtert werden. Es soll entschieden werden, wer der Souverän der Welt ist: Gott oder der Tod? Gleichnisse aus dem Neuen Testament harren ihrer Auslegung. Die zivilisatorischen Fortschritte stehen zur Debatte, die die Menschheit errungen hat. Und im fernen Armenien kämpfen die eigenen Truppen gegen das Osmanische Reich.
Der russische Adlige Nikolai hat einen erlesenen Zirkel von Freunden und, man weiß es nicht so genau, Verwandten in sein Haus geladen. Auch der Ort, an dem die Weihnachtsfeier stattfindet, bleibt etwas vage – bei dem Titel stiftenden Landsitz könnte es sich tatsächlich um jenen nahe der Ortschaft Malmkrog in Siebenbürgen handeln – und die Zeit ein ebenso unbestimmtes Fin du siècle (allerdings wird einmal auf die Pariser Weltausstellung von 1900 angespielt.)
Seine vier Gäste hat der Hausherr klug gewählt, es sind prinzipienfeste Diskutanten von bemerkenswerter Ausdauer. Ihre Beredsamkeit ist ausgesprochen kosmopolitisch: Untereinander spricht man standesgemäß Französisch, die Domestiken erhalten ihre Anweisungen auf Deutsch und sprechen miteinander ungarisch. Wenn der Redefluss einmal versiegt, ist das ein privilegierter, kostbarer Moment im Verlauf der 201 Minuten, die Cristi Puius neuer Film dauert.
Der rumänische Regisseur stellt furchtlose Ansprüche an die Geduld seines Publikums. Nur sein Langfilmdebüt dauerte unter zweieinhalb Stunden. Mit seinem vorangegangenen Film »Sieranevada« hat »Malmkrog« den erzählerischen Rahmen einer Familienfeier gemeinsam, die sich weitgehend an einem Schauplatz und einem Tag zuträgt. Während es dort auch nach knapp drei Stunden nie zu dem angekündigten Essen kommt, strukturieren hier immerhin gleich mehrere Mahlzeiten die Handlung; freilich, ohne dass man dies als eine Beschleunigung wahrnehmen würde. »Malmkrog« stellt das Paradox eines unmöglichen Films dar: Obwohl er die Länge eines Bibelepos hat, ereignet sich in ihm nicht mehr als Konversation. Aber diese Zumutung ist ein Glücksfall: Die Unstimmigkeit der Welt erweist sich tatsächlich als abendfüllendes Kinoereignis.
Puiu hat die »Drei Gespräche« des russischen Philosophen und Mystikers Wladimir Solowjow von der französischen Riviera nach Transsylvanien verlegt, sie dabei aber nicht vom Kopf auf die Füße gestellt. In sechs Kapiteln lauscht man konzentriert den Weltanschauungen einer erloschenen Epoche. Dass ein Krieg heilig und ehrenvoll sein kann, würden heute nur noch Fanatiker behaupten; die Unterscheidung zwischen einem guten und schlechten Frieden hingegen ist nach wie vor relevant. Das Streben Russlands, den Anschluss an Europa zu finden sowie die Unwägbarkeiten der Globalisierung haben heute ein anderes Gesicht. Es hätte viel schlimmer kommen können: Immerhin plaudern die Herrschaften nicht über Ernten, Geschäfte oder Börsenkurse.
Den Regiepreis der neuen Berlinalesektion »Encounters« gewann Puiu im letzten Jahr nicht von ungefähr. Er kann sich als ein Regisseur des Wortlauts zeigen, da er den filmischen Raum mit höchster Präzision vermisst. Kameramann Tudor Vladimir Pandurus staffelt seine Tableaus kunstfertig in die Tiefe, stellt die Sprechenden oft außerhalb des Bildkaders oder erweitert das Blickfeld durch Spiegel. Wenn die Kamera sich bewegt, schweift sie nicht ab, sondern wandert mit den Gedanken fort. In den exquisiten Kompositionen nimmt gleichsam das Haus die Erzählperspektive ein (allein schon die Bücherregale sind ein Kabinettstück der Szenenbildner und Requisiteure), das sich immer wieder öffnet für ein zweites Universum: die weitgehend verschwiegene Parallelwelt der Dienstboten.
Von seinem Ensemble wird Puiu bei diesem Vorhaben mit diskreter und einnehmender Verve unterstützt. Man nimmt einander auf je eigene Weise beim Wort. Hausherr Nikolai (Fréderic Schulz-Richard) widerspricht mit zuweilen herablassender Eloquenz; Madeleine (Agathe Bosch) kommentiert das Gesagte und vergibt Noten; der glühende Europäer Edouard (Ugo Broussot) wartet seinen Einsatz strategisch ab. Die Spannungen bleiben diplomatisch, die gelehrsamen Duelle haben kaum schwerwiegendere Konsequenzen als eine kurze Ohnmacht.
Nach zwei Stunden jedoch wechselt dieser Film, der ganz auf die Dynamik der Kontroverse vertraut, ohne äußeres Drama auskommt und kein anderes Begehren kennt als das, ein Gegenüber zu überzeugen, brüsk seinen Tonfall. Die bislang dezente Musik aus dem Off schwillt zu einem Tumult an, es fallen plötzlich Schüsse, Kugeln treffen ihr Ziel. Der Angstraum eines Aufruhrs, in dem sich Revolution und Weltkrieg ankündigen? Der Film behandelt ihn wie einen Betriebsfehler, der folgenlos bleibt. Die Herrschaften wahren höfliches Schweigen darüber. Sie sind Schlafwandler der Geschichte.
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