Apple TV+: »Moskito-Küste«
»Moskito-Küste« (Serie, 2021). © Apple TV+
Ein bisschen ist es Etikettenschwindel, dass die von Neil Cross (»Luther«) kreierte Serie den gleichen Titel trägt wie Peter Weirs Film von 1986 und dessen Vorlage, Paul Theroux Aussteiger-Bestseller von 1981. Zwar ist auch der Name der Hauptfigur Allie Fox, des Erfinders, despotischen Familienvaters und Verächters der amerikanischen Konsumgesellschaft, derselbe geblieben, und sein kleiner Sohn heißt Charlie, genau wie der von River Phoenix gespielte Erzählercharakter im Film. Aber damit haben sich die Ähnlichkeiten erschöpft. Statt ein Aussteiger aus Überzeugung ist der nun von Justin Theroux, dem Neffen des Roman-Autors, gespielte Allie Fox ein Gejagter, dem das FBI auf den Fersen ist. Seine Frau heißt nun nicht mehr nur »Mother«, wie Helen Mirrens auf Passivität getrimmte Figur, sondern Margot wird von Melissa George dargestellt und hat entschieden ihre eigenen Geheimnisse. Statt vier haben die beiden nur zwei Kinder: besagten Charlie (Gabriel Bateman), dessen Perspektive auf die Dinge nun gleichberechtigt mit den anderen ist, und seine größere Schwester Dina (Logan Polish), die mit ihren 16 Jahren aufzubegehren beginnt gegen das Leben, das ihr der Vater aufoktroyiert, und außerdem endlich Antworten haben will: Warum muss die Familie so plötzlich das eben noch so friedliche Landleben in Texas aufgeben, um sich eiligst zur mexikanischen Grenze aufzumachen?
Sieben Folgen hat die auf AppleTV+ startende Serie, die man auch als Prequel zu »Mosquito Coast« labeln könnte – an derselben kommen die Foxes, Spoiler-Alert, nämlich in dieser ersten Staffel noch gar nicht an. Stattdessen schaffen sie es gerade mal nach Mexiko. Auf dem Weg aber passiert so viel, dass die Ausgangslage für die nächste Staffel, so es eine geben wird, doch eine entschieden andere wäre.
Dass die Geschichte, wenn man sie nicht in den fernen 80er Jahren spielen lassen wollte, entscheidend verändert werden musste, leuchtet unmittelbar ein: Der Blick auf Eltern-Kind-Beziehungen, auf das Gleichgewicht der Geschlechter und besonders auf das Verhalten von weißen Personen im post-kolonialen Umfeld hat sich derart verwandelt, dass man Figuren, wie sie Harrison Ford und Helen Mirren darstellten, heute kaum mehr ertragen könnte. Das Interessanteste an der neuen Serie ist nun, dass sie damit ganz bewusst spielt: Justin Theroux als Allie Fox ist viel geschmeidiger, viel charmanter, sogar viel »woker«, als es Harrison Fords Figur sein konnte. Er bringt der Rebellion der Tochter Verständnis entgegen, setzt sich mit ihr hin, um Dinge zu bereden, selbst wenn die Feinde gerade beständig näher kommen. Er sorgt sich um seinen Sohn und dessen gute Laune. Er macht seiner Frau Komplimente, wenn sie sich einmal mehr auf einem Billigmarkt neu einkleiden müssen. Aber er ist trotz alledem – ein Arschloch. Zu spüren bekommen das zunächst nur die anderen: der illegale Immigrant, der ihnen über die Grenze hilft, sein Kompagnon, der ihnen in Mexiko Verbindungen besorgen soll. Für fast alle, die der Familie in Not beistehen, endet die Begegnung mit den Foxes fatal. Ist das Zufall? Oder zeigt sich darin die Fortsetzung eines weißen Überlegenheitsgebarens, die die Opfer der anderen allzu selbstverständlich in Kauf nimmt? Nach und nach beginnt vor allem Tochter Dina, ihren Vater kritisch zu sehen. Aber im nächsten Moment steht die ganze Familie wieder vor einer tödlichen Gefahr, aus der sie nur rauskommen, wenn sie zusammenhalten.
In jeder Folge gibt es atemlose Spannungsmomente; in jeder Folge geht es aufs Neue ums Ganze. Gleichzeitig lässt sich die Serie auch viel Zeit. Das große Vorbild ist sichtlich Vince Gilligans »Breaking Bad«, wo der Blick der Kamera die Gewalt des Geschehens durch viel Gespür für Atmosphäre und das Einfangen eines besonderen, oft skurrilen Moments kommentierte. Zwischendurch wirkt das gewollt, fast eitel. Aber darin passt es wieder zur kritisch gesehenen – und von Theroux wunderbar als Gratwanderung zwischen Charmeur und Ekel gespielten – Hauptfigur.
OV-Trailer
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