Streaming-Tipp: »Verirrte Kugel«
Ein schweigsamer Mechaniker aus dem kleinkriminellen Milieu gerät zwischen die Fronten korrupter Polizisten und brutaler Drogendealer. Klingt vertraut? Kein Wunder. Der französische Netflix-Thriller »Lost Bullet« (Originaltitel: Balle Perdue; dt. Titel: Verirrte Kugel) bedient sich für seine Story großzügig bei Nicolas Winding Refns Kultfilm »Drive«. Stilistisch verortet Regisseur Guillaume Pierret sein Spielfilmdebüt allerdings eher im »Fast & Furious«-Universum: Unkaputtbare Machos liefern sich hier erbarmungslose Verfolgungsjagden in modifizierten Autos und schießen mit Pumpguns um sich. Feingeistig geht anders, aber zweifellos inszeniert Pierret den klischeehaften Stoff mit Gespür für Timing und Haptik: Die zahlreichen Autounfälle in »Lost Bullet« wirken so real, dass man sich beim Zusammenzucken ertappt.
Im Mittelpunkt des Films steht Lino (Alban Lenoir), ein genialer Autoschrauber. Lino sitzt im Gefängnis, weil er mit einem aufgemotzten Kleinwagen – eine bekannte französische Autofirma war wohl Hauptsponsor – ein Juweliergeschäft geknackt hat. Dann besucht ihn eines Tages der sympathische Polizist Charas (Ramzy Bedia) und bittet Lino um Hilfe: Seine Streifenwagen können mit den getunten Karren der örtlichen Drogengangs nicht mithalten. So erklärt Lino sich bereit, die Polizeiautos mit Spoilern und anderen Gimmicks auszustatten. Alles läuft zunächst glatt: Die Polizisten schnappen mehr Gangster als je zuvor und Lino beginnt eine Affäre mit der Polizistin Julia (Stéfi Celma). Dann aber gerät Charas in einen Hinterhalt: Sein korrupter Kollege Areski (Nicolas Duvauchelle) erschießt ihn und Lino, dem einzigen Zeugen, soll der Mord angehängt werden. Er hat nur eine Chance, seine Unschuld zu beweisen: die Kugel aus der Tatwaffe, die in Charas' Auto steckt.
Am besten funktioniert »Lost Bullet« erwartungsgemäß in den Action-Sequenzen, die hervorragend inszeniert wurden. Besonders das Sounddesign – das Kreischen von Blech auf Blech, das Knacken brechender Windschutzscheiben – trägt zu einer tatsächlich immersiven Erfahrung bei. Zudem gibt der solide Cast sein Bestes, die Nonsens-Story glaubhaft zu vermitteln. Hauptdarsteller Alban Lenoir ist am besten aus einer Nebenrolle im Rachethriller »Taken« bekannt und darf hier nun selbst einen Liam-Neeson-artigen Actionhelden spielen: In einer Szene, die man entweder völlig überzogen oder konsequent brachial finden kann, vermöbelt Lenoir ganz im Alleingang ein komplettes Polizeirevier. In seiner Unbesiegbarkeit ist Lino nicht weit von Bud Spencer zu seinen besten Zeiten entfernt.
Die hölzernen Dialogszenen erinnern allerdings eher an einfachere Fernsehproduktionen in der Tradition von »Alarm für Cobra 11«: Auch hier dienen sie hauptsächlich als bloße Überleitung zur nächsten Verfolgungsjagd oder zur nächsten Schießerei. Nichtsdestotrotz überzeugt »Lost Bullet« als kompaktes Genrestück mit fiesen Bösewichten und rasanter Action. Dass Regisseur Pierret zudem gänzlich auf ironische Brechung seiner Macho-Fantasie verzichtet, kommt diesem klassischen Thriller letztlich durchaus zu Gute. »Lost Bullet« ist damit ein »guilty pleasure«, wie es im Buche steht.
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